Carol – Männer, die auf Lesben starren

Vorweg: Ich mag Todd Haynes. Ich mag seine Arbeit mit den Motiven des klassischen Melodrams der 50er Jahre, seine Adaptionen und Übertragungen damaliger Stoffe in die heutige Zeit, allen voran Dem Himmel so fern, sein „Remake“ des Douglas Sirk Klassikers Was der Himmel erlaubt. Schon in seiner Neuauflage dieser tragischen Liebesgeschichte über Klassengrenzen und gesellschaftliche Konventionen hinweg spielte Homosexualität eine tragende Rolle. Und so ist es nicht weiter verwunderlich, dass sich Todd Haynes mit Carol nicht nur erneut in die 50er Jahre begibt, sondern auch das Thema gleichgeschlechtlicher Liebe wieder aufgreift.

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Carol © DCM

Carol unterscheidet sich in vielerlei Hinsicht maßgeblich von anderen männlichen* Perspektiven auf die Liebe zwischen Frauen. Besonders auffällig ist die Inszenierung Cate Blanchetts in der Titelrolle als „Subjekt des Begierde“. Erzählt aus der Perspektive der schüchternen Kaufhausangestellten Therese (Rooney Mara), kann Carol trotz des auf sie gerichteten Begehrens ihren Subjektstatus behalten, ein Privileg, das nur wenigen „Love Interests“ im Film vergönnt ist. Wie auch die junge Therese, sehen wir als Zuschauer_innen Carol in all ihrer faszinierenden Anmut und starken Präsenz, mit all ihren Makeln und Vorzügen sowie ihrer persönlichen Geschichte und Dramen. Nie ist ihr Körper Anschauungsobjekt, nie ist ihre Anziehung rein physischer Natur. Es ist ihr Wesen, ihre von Haynes gekonnt inszenierte Ausstrahlung, die uns sofort in ihren Bann zieht. Wir verlieben uns alle ein bisschen in Carol, egal auf welche Menschen wir außerhalb des Kinos stehen.

Ein Blick auf einen der prominentesten Filme über lesbische Liebe der letzten Jahre, Blau ist eine warme Farbe, unterstreicht diesen Ansatz der Subjektivierung anstelle der Objektivierung. Die ausufernden Liebesszenen zwischen Léa Seydoux und Adèle Exarchopoulos in Abdellatif Kechiches Film, hatten den unangenehm Beigeschmack einer männlichen* Ergötzung an der weiblichen* Sexualität. Die Zurschaustellung ineinander gewundener Frauen*körper war nicht in der Lage, jene Intimität zu transportieren, die uns Todd Haynes in Carol offenbart – ein Liebesfilm, der sich fast unerträglich viel Zeit damit lässt, die Liebenden körperlich zueinander zu führen und auch dann das Meiste dem Kopfkino des Publikums überlässt.

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Blau ist eine warme Farbe © Alamode

Eine weitere Stärke Carols ist der Verzicht auf die Problematisierung lesbischer Liebe. Haynes inszeniert die auf einem Roman von Patricia Highsmith basierende Geschichte nach den klassischen Regeln des romantischen Melodrams, mit bewegender Filmmusik, intensiven Blicken und zahlreichen Sehnsuchtsmomenten. Bereits in den ersten Minuten, noch lange bevor Carol und Therese einander physisch näher kommen, können wir die gegenseitige Anziehung der beiden Frauen* spüren. Weder Carol noch Therese ringen zu irgendeinem Zeitpunkt mit ihrer Homosexualität, so dass der Film selbst keinerlei Zweifel an ihrer Legitimität aufkommen lässt.

Es ist – wie schon im Melodram der 50er Jahre – die Gesellschaft, die das Drama hervorruft. Dabei halten sich homophobe Äußerungen auffällig in Grenzen. Weder zwischen Carol und ihrem Noch-Ehemann Harge (Kyle Chandler), noch zwischen Therese und ihrem Verehrer Richard (Jake Lacy), ist die lesbische Liebe an sich ein Problem. In beiden Fällen ist es Eifersucht und/oder männliches* Besitzdenken, das sich gegen die Beziehung der Frauen* wendet. Im Falle Carols wird sogar mehrfach angedeutet, dass ihre Ehe nicht etwa an ihrer Homosexualität, sondern an den patriarchalen Machtstrukturen ihrer heterosexuellen Beziehung gescheitert ist, die sie – wie die klassische Hausfrau des 50er Jahre Melodrams – in Abhängigkeit und häuslicher Isolation gehalten haben.

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Carol © DCM

Und somit geht die eigentliche „Gefahr der lesbischen Liebe“ in Carol nicht von einer vermeintlichen Perversion aus, sondern von der Abkehr der Frau* von der Herrschaft des Mannes*. Carols Ausbruch aus ihrer Ehe und Thereses Entscheidung gegen den im Grunde sympathischen Verehrer sind Akte der Emanzipation und Selbstbestimmung, die mit den Regeln der patriarchal strukturierten Gesellschaft brechen.

Todd Haynes macht also vieles „richtig“, entwirft zusammen mit Drehbuchautorin Phyllis Nagy komplexe Frauen*figuren, die niemals durch ihre Physis definiert und niemals vorgeführt werden. Es gelingt ihm, eine weibliche* Perspektive zu übernehmen, die den Menschen der Begierde nicht zum Objekt degradieren muss. Wie bezeichnend ist an dieser Stelle wieder unsere patriarchal geprägte Sprache, die immer nur von Sehnsuchtsobjekten und Objekten der Begierde sprechen kann. Mit dieser Sprache ist Haynes’ feministischer Inszenierung kaum beizukommen.

An anderer Stelle aber, tappt Todd Haynes dann doch in dieselbe Falle wie Abdellatif Kechiche: Er inszeniert ein Machtgefälle. Die zarte und unsichere Kaufhausangestellte Therese, die nach eigener Aussage schon von der Auswahl eines Mittagessens überfordert ist, trifft auf die wohlhabende, selbstsichere und in ihrer Homosexualität angekommene Carol. Die Überlegenheit der Älteren gegenüber der Jüngeren schwächt Thereses Charakter maßgeblich und gibt ihr einen Entwicklungsweg explizit vor. Nach einem Streit schreibt Carol an ihre Geliebte, erst wenn Therese die Dinge so sehen könne wie sie selbst, sei eine erneute Begegnung möglich.

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Carol © DCM

In dieser Annahme eines „richtigen“ Wegs in Kombination mit der Beziehungskonstellation aus einer starken, im kulturellen Code „männlich“ gelesenen, Figur und einer schwachen, entsprechend „weiblichen“, Person, spiegelt die Liebe zwischen Carol und Therese also patriarchale Machtstrukturen wider. Zwar emanzipiert sich Therese am Ende des Films, doch erreicht sie nie Carols Augenhöhe – schon allein deshalb, weil Letztere den Weg im Grunde vorgegeben hat. Auch in Blau ist eine warme Farbe trifft eine schüchterne, unerfahrene Frau* auf ein betont burschikos-selbstbewusstes Gegenüber, in dem sie sich vorübergehend verliert – als wäre dieses Gefälle die Voraussetzung für romantische Liebe.

Dass es auch anders geht, beweist La Belle Saison von Catherine Corsini (Kinostart: 5. Mai 2016). Die Liebesgeschichte zwischen den beiden Hauptfiguren Delphine (Izïa Higelin) und Carole (Cécile De France) spielt sich vor dem Hintergrund der Frauen*bewegung in den 70er Jahren ab. Während Delphine bereits Erfahrungen mit dem eigenen Geschlecht gesammelt hat und sich ihrer sexuellen Orientierung sicher ist, zeichnet sich die bislang heterosexuell lebende Catherine durch ihr versiertes politisches Engagement aus. Hier finden sich zwei Menschen zusammen, die voneinander lernen können. Keine der beiden gibt einen Weg vor, sondern die Aufgabe besteht darin, einen gemeinsamen zu finden, mit- und aneinander zu wachsen. Die Begegnung geschieht auf Augenhöhe und ist frei von patriarchalen Machstrukturen und der Vorstellung eines „richtigen“ und eines „falschen“ Weges.

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La Belle Saison © Alamode

Es ist diese Abkehr von der patriarchalen Beziehungslogik, die Todd Haynes mit Carol leider nicht gelungen ist. Und doch ist sein Film, im Gegensatz zu La Belle Saison, von fesselnder und berührender Romantik. Vielleicht ist es ja doch wahr, dass romantische Liebe, wie wir sie heute definieren und inszenieren, nur im Kontext patriarchaler Beziehungsstrukturen entstehen kann. Das bedeutet allerdings nicht, dass Feminismen die romantische Liebe dekonstruieren. Es bedeutet nur, dass Feminismen neben neuen, nämlich gleichberechtigten Beziehungsmodellen ohne Besitzansprüche auch neue Definitionen und Inszenierungen von Romantik erfordern.

In einer utopischen, durch und durch geschlechtergerechten Zukunft finden unsere Enkelkinder Carol vielleicht – oder hoffentlich? – furchtbar unromantisch und verlieren sich mit all ihren Emotionen in der tiefen, ergreifenden Liebe von Delphine und Carole in La Belle Saison.

Sophie Charlotte Rieger
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