Drei Gedanken zu: Invisible Sue

Die 12-jährige Susanne (Ruby M. Lichtenberg), die lieber Sue genannt werden möchte, hat es nicht leicht. In der Schule ist sie eine Außenseiterin und von ihrer Mutter Maria (Victoria Hartmann), einer erfolgreichen Mutationsforscherin, fühlt sie sich überhaupt nicht wahrgenommen. Das kann auch die kumpelhafte Beziehung zu ihrem Vater Christoph (Luc Schiltz) nicht wettmachen. Als sie nach einem Unfall im Labor der Mutter plötzlich unsichtbar werden kann, ist sie zunächst erschüttert. Doch dann wird ihre Mutter entführt und Sue findet in Tobi (Lui Eckardt) und App (Anna Shirin Habedank) Freund:innen, mit deren Unterstützung sie ihrer Mutter helfen kann.

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Ruby M. Lichtenberg als Invisible Sue, nah, mit Kapuze

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1. Genderrollen aufheben – es geht doch!

Wenn feministische Filmkritik unter anderem weniger traditionelle Genderrollen in aktuellen Produktionen fordert, wird dieser Forderung gerne entgegengehalten, “man” müsse ja nun nicht “krampfhaft” versuchen, “immer alles” anders zu machen. Diese Position übergeht natürlich, dass mehr Diversität außerhalb des heteronormativen, binären Geschlechterverständnisses ebenso wie eine größere Bandbreite an Charaktereigenschaften, die binär angelegte Protagonist:innen an den Tag legen könnten, nicht die dogmatische Eliminierung jeglicher Geschlechtsidentität bedeutet. Statt der befürchteten Einschränkung stellt mehr Diversität ja im Gegenteil für alle, auch binär Identifizierte Personen, eine größere Freiheit dar, auch althergebrachte Geschlechterrollen individuell für sich auszulegen. Dass das keine krampfhaften Verrenkungen für filmische Erzählungen bedeuten muss, sondern stattdessen interessantere Figuren mit vielschichtigen Profilen ermöglicht, beweist Invisible Sue.

Regisseur und Autor Markus Dietrich schenkt dem deutschen Kinder- und Jugendfilm eine ureigene Superheldinnen-Geschichte (ohne Printvorlage) im Comic-Stil und besetzt die ansonsten meist männlichen Archetypen des Genres mit großer Selbstverständlichkeit vornehmlich weiblich. Schon die Heldin Sue ist nicht so sehr über ihr Geschlecht wie über ihre familiäre Situation, ihre beginnende pubertäre Existenzkrise und ihr Interesse an Comics definiert. Sie darf lässig, aufbrausend, durchsetzungsstark und verunsichert sein, eine Jugendliche am Beginn ihrer Pubertät eben, die sich vor der Ausgrenzung durch ihre Altersgenoss:innen in die Phantasiewelt der Comics flüchtet. Ihre Eltern stellen das genaue Gegenteil der herkömmlichen Rollenverteilung in der Versorgerehe dar: Die Mutter ist eine ehrgeizige und erfolgreiche Führungskraft in der naturwissenschaftlichen Forschung, während der Vater den Hauptteil der elterlichen Fürsorge trägt. Aus seiner engen Beziehung zu Sue und dem Erfolg seiner Ehefrau müssen wir nicht, aber könnten wir sogar darauf rückschließen, dass er eventuell seine eigene berufliche Tätigkeit in Sues Kindheit zurückgestellt hat.

Sue (Ruby M. Lichtenberg) hat den Kopf auf einem Tisch abgelegt, neben ihr liegt ein Comicheft

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Auch die weiteren handelnden Personen dürfen zuerst Charaktere mit individuellen Stärken und Schwächen sein, bevor sie als Vertreter ihres Geschlechts in Erscheinung treten. Sues neue Freundin App, die eigentlich Kaja heißt, ist eine introvertierte, spröde Technikerin, die Handys manipulieren kann und Sue mit dem obligatorischen Superheld:innen-Outfit ausstattet. Mit App und deren Tante Lore (Tatja Seibt), der ehemaligen Vorgesetzten von Sues Mutter Maria, sowie der Mutter selbst und ihrer Assistentin Lenia (Jeanne Werner), präsentiert Invisible Sue vier weibliche Figuren als Expertinnen in Technik und Naturwissenschaft.. Damit kontrastiert der Film die beklagenswerte Realität, in der Frauen in den MINT-Fächern noch immer unterrepräsentiert sind. Dieser Kontrast zwischen der realen Welt und der fiktiven von Invisible Sue fällt jedoch nicht als “unrealistisch” auf, denn Dietrich macht sich den Effekt der willentlichen Aussetzung der Ungläubigkeit zunutze. Das Genre des Superheld:innen-Films beruht gänzlich auf dem Prinzip, dass Zuschauer:innen auch extrem unrealistische Elemente – wie eben Superkräfte – hinnehmen, um sich ungestört unterhalten zu lassen. In anderen Werken aus dem Fantasy- und Science-Fiction-Genre werden dennoch Sexismus, Rassismus und andere diskriminierende Darstellungen oft damit entschuldigt, dass dies in der jeweiligen fiktiven Welt “nun mal so sei” – außer Acht lassend, dass jedes Element in dieser fiktiven Welt einer bewussten Entscheidung der Urheber:innen unterliegt. Markus Dietrich hingegen setzt hier die Freiheit der Phantasie ein, um eine diversere Welt zu schaffen statt einer, die die Missstände der Realität nachahmt.

Die Freund:innenschaft zu Sues zweitem “Sidekick”, Tobi, entwickelt sich aus der geteilten Begeisterung für Comics, auch hier wird also die Geschlechtsidentität angenehm zweitrangig behandelt. Tobi beeindruckt seine Altersgenoss:innen auf dem Schulhof mit außergewöhnlichen Fahrrad-Künsten und übernimmt daher die Rolle des designierten Fahrers im Team. Ihn charakterisiert darüber hinaus der Spagat zwischen sozialem Erfolg, den er aufgrund seines sportlichen Könnens verzeichnet, und der Unsicherheit, die er mit Sue und App teilt, weil er stottert. Die sich entwickelnde romantische Beziehung zwischen Sue und Tobi ist zwar eine (heteronormative) Stereotype des Genres, sie trägt jedoch auch entscheidend zur Plotentwicklung bei und wirkt angesichts der beginnenden Pubertät der Protagonist:innen als natürliches Element des Gesamtkonzepts. Markus Dietrich inszeniert die zögerliche Annäherung zwischen den Jugendlichen taktvoll, sogar dann, wenn die altersgemäßen Unsicherheiten im Umgang mit körperlichen Zärtlichkeiten für komische Momente sorgt.

Die drei Held:innen sitzen gemeinsam auf dem Bett, vor ihnen schwebt eine Kugel aus Licht

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2. Diversität als Stärke

Die Verunsicherung über die Veränderungen des Körpers, aus der zunächst Akzeptanz und schließlich Selbstbewusstsein erwächst, ist ebenfalls eine beliebte Stereotype im Superheld:innen-Genre. Gerade bei jugendlichen Protagonist:innen liegt dies auch nah, spiegelt sich darin doch die Neu-Entdeckung und -Definition des Körpers und der Persönlichkeit in der Pubertät. Die Heldin in Invisible Sue erlebt ihre neue Fähigkeit als eine Beeinträchtigung, sieht sich selbst als “Freak” und wünscht sich von ihrer Mutter ein Gegenmittel. Sie und ihre Freund:innen erleben Selbstzweifel und soziale Ängste, entwickeln im Verlauf des Films jedoch größeres Selbstbewusstsein und ein Gefühl der Verbundenheit innerhalb ihrer Gruppe. Markus Dietrich zeichnet damit den inneren Konflikt vieler Jugendlicher nach, der sich aus zwei widerstreitenden Bedürfnissen ergibt. Einerseits besteht der Wunsch, in der Gemeinschaft aufzugehen und in dieser nicht als Sonderling, als von der Norm abweichend, herauszustechen. Gleichzeitig ist auch das Herausbilden einer individuellen Persönlichkeit und die Anerkennung eben jener Individualität Teil der Adoleszenz. Die Protagonist:innen von Invisible Sue sprechen offen über das, was sie an sich als Schwäche wahrnehmen, und erkennen im Austausch mit anderen, dass diese Schwächen mit Stärken einhergehen oder sogar als solche umgedeutet werden können. Dadurch, dass sich Sue, App und Tobi gegenseitig als vollständige Persönlichkeiten nicht nur annehmen, sondern schätzen lernen, können sie ebenso ihre eigenen Eigenschaften annehmen und schätzen.

Das Prinzip des Teams, in dem sich Individuen mit ihren jeweiligen Fähigkeiten ideal ergänzen, liegt auch den großen Produktionen des Marvel Cinematic Universe zugrunde, die Stärke von Invisible Sue liegt jedoch in der Nahbarkeit der Protagonist:innen. Trotz des fantastischen Plots sind die Held:innen des Films in ihrer sozialen Situation und ihrem inneren Erleben näher am jugendlichem Publikum als die aus Hollywood. Es ist diese Nähe zum Publikum, aus der heraus Markus Dietrich die traditionelle Vorstellung von Geschlechterrollen in Frage stellt und Diversität, das “Anders-Sein”, als positive Alternative präsentiert.

App (Anna Shirin Habedank), Sue (Ruby M. Lichtenberg) mit Maske und Tobi (Lui Eckardt) mit Motorradhelm auf einem Mofa

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3. Auch eine Gegenspielerin verdient Komplexität

Da inzwischen klar geworden sein dürfte, dass Invisible Sue mir (und dem Zielpublikum in meiner Begleitung) sehr gut gefallen hat, möchte ich mich nicht allzu lange mit den dennoch bestehenden Kritikpunkten aufhalten. Zunächst einmal gilt auch hier, was immer wieder an aktuellen Filmen insbesondere für Kinder und Jugendliche zu bemängeln ist: Nicht-heterosexuelle, non-binäre Personen und PoC bleiben unterrepräsentiert.* Meiner Meinung nach liegt dies im übrigen mehr an der Unwilligkeit der Erwachsenen, Dinge möglicherweise erklären zu müssen, als an einer möglichen Überforderung der Kinder. Gerade jüngere Zuschauer:innen akzeptieren in der Filmrezeption vieles, zu dem ihre erwachsene Begleitung belastete Assoziationen hat. Wenn Protagonist:innen zum Beispiel Figuren des gleichen Geschlechtes lieben, nehmen Kinder dies durchaus ohne Zögern hin – die Diskussion über eine altersgemäße Erläuterung sexueller Praktiken, die ein solcher Film nach sich ziehen könnte, erübrigt sich also, denn sie ist schlichtweg unnötig!

Einer weiterer Kritikpunkt ist der an der privaten Gegenspielerin Sues, Eileen (Lotte Tscharntke). Sie bleibt im Vergleich zu der fortschrittlichen Charakterisierung der anderen Figuren eine allzu bekannte Schablone, nämlich die der auf Äußerlichkeiten und Status bedachten, mit psychischer Gewalt arbeitenden weiblichen Antagonistin, auch “Zicke” oder hier “Tussi” genannt. Diese Schablone transportiert genau die Art von Misogynie, die Invisible Sue ansonsten so gewissenhaft untergräbt, denn auch hierin liegt ja eine Abwertung weiblicher Attribute. Selfies auf dem Handy aber machen Mädchen und Frauen nicht zu schlechteren Menschen oder Feministinnen. Das Stereotyp hat zwar eine Berechtigung im Plot: Eileen ist diejenige, die Sue und App aktiv ausgrenzt und herabsetzt; ihre Annäherungsversuche an Tobi führen parallel zum emotionalen Konflikt zwischen Sue und Tobi, und dieser Konflikt bringt schließlich alle Pro- und Antagonist:innen zum Höhepunkt zusammen. Gerade weil Dietrich aber eine fähige Hand darin beweist, mit Leichtigkeit traditionelle Geschlechterrollen beiseite zu schieben und seinen Figuren menschliche, statt gegenderte Charaktereigenschaften zuzuschreiben, enttäuscht dieser Ausreißer.

Das Team steht gestaffelt vor Nachthimmel, alle blicken nach rechts aus dem Bild

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Fazit – Bis zur Diversität und noch viel weiter!

Invisible Sue bearbeitet nicht explizit feministische Themen, aber dennoch oder gerade deshalb kann er meiner Meinung nach feministisch wirken: Markus Dietrich beweist mit dem gelungenen Einsatz seiner filmischen Mittel eine große Begeisterung und tiefes Verständnis für die Popkultur, deren Teil die derzeitigen amerikanischen Superheld:innen-Filme sind. Er hat mit Invisible Sue eine deutsche Interpretation des Genres geschaffen, die den Spaß an Dynamik und Spielerei mit grafischen Möglichkeiten zum Ausdruck bringt, ohne sich anzubiedern oder an der Aufgabe zu verheben, es den Hollywood-Größen nachzumachen. Sein Beitrag zum ansonsten männlich dominierten Genre ist außerdem mit vornehmlich weiblichen und dabei stets vielschichtigen Hauptfiguren besetzt.

Trotz des kleinen Wermutstropfens in Hinblick auf die Gegenspielerin des Films vergebe ich deshalb das Prädikat “Emanzipatorisch wertvoll”. Denn vom Erfolg, den ich Invisible Sue ausdrücklich wünsche, hängt auch die zukünftige Arbeit anderer Drehbuchautor:innen, Regisseur:innen, Produzent:innen und vor allem Förderungen ab. Erweist sich ein Film wie Invisible Sue als (kommerziell) erfolgreich, dient das Filmschaffenden als Motivation, dem jugendlichen Publikum noch mehr selbstverständliche Diversität zuzutrauen.

Kinostart: 31. Oktober 2019

Leena M. Peters
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