THE WILD BOYS – Im Strom der Geschlechter

Nichts ist wirklich eindeutig in Betrand Mandicos erstem Langfilm The Wild Boys, nichts lässt sich einfach entwirren in diesem Wirrwarr aus Körpern, Natur, Grausamkeit und Isolation. Und nichts geht über den kleinen Moment der Unmittelbarkeit hinaus, den der Charakter Tanguy (Anaël Snoek) in den ersten Sekundes des Films mit Augenkontakt zu den Zuschauenden evoziert. Ab diesem Moment spielt der französische Film ein sadistisches Spiel – nicht nur mit seinem Publikum, sondern auch mit seinen Protagonist:innen, bringt sie alle an den Rande des Wahnsinns und dekonstruiert jegliche Kategorie – filmischer und geschlechtlicher Art – , an die wir uns doch so verzweifelt klammern, um nicht den Halt zu verlieren. 

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Jean-Louis in Nahaufnahme. Sein Gesicht ist benetzt mit einer weißen Flüssigkeit.

© Ecce Films

The Wild Boys erzählt die Geschichte der fünf Freunde Romuald (Pauline Lorrilard), Jean-Louis (Vimala Pons), Hubert (Diane Rouxel), Sloane (Mathilde Warnier) und Tanguy. Als Strafe für die Vergewaltigung und – halb beabsichtigte – Tötung ihrer Literaturlehrerin wird die Bande auf einen zweimonatigen Züchtigungstrip auf hoher See geschickt. Unter der harten Hand des namenlosen Kapitäns (Sam Louwyck) erleiden die fünf die irrsinnigsten Schikanen, bis sie eines Tages auf einer bizarren Insel stranden, auf der sie nicht nur mit fremdartiger Flora und Fauna konfrontiert werden, sondern auch den wahren Zweck ihrer Reise erkennen. Denn diese soll nicht nur der Abstrafung dienen, sondern ist Teil eines Experiments des Arztes Séverin (Elina Löwensohn), der die Jungen in Mädchen umwandeln will. 

Panta rhei – alles fließt

Diese Geschichte ist jedoch nur zweitrangig für das Wesen des Films. Sie dient  höchstens als Rahmen dessen, was ihn bedeutend macht: seine anspruchsvolle Bildlichkeit, seine – stellenweise nicht ganz so – subversive Symbolik und seine provokative Performativität. Die Reise auf dem Schiff, sowie der Aufenthalt auf der Insel ist ein Rites de Passage – ein Übergangsritual – das die Protagonist:innen lange Zeit in der Phase der Grenzerfahrung verweilen lässt. Wo die meisten Übergangsriten die Entwicklung vom “Jungen” zum “Mann” begleiten, geht es in The Wild Boys jedoch um die Transzendierung der binären Geschlechter an sich.

Zwei der Jungs sind in einem schleimigen Spinnennetz gefangen.

© Ecce Films

Dass die fünf Jungs konsequent von Schauspielerinnen dargestellt werden, fällt zu Beginn des Films kaum auf. Die burschikosen Haarschnitte und Schuluniformen erschaffen eine perfekte Illusion, die natürlich den vom binären Geschlechtersystem geformten Sehgewohnheiten  entstammen. Wir wollen männliche Körper sehen, also sehen wir männliche Körper. Doch schon früh konfrontiert uns der Film mit Interferenzen, die schon fast eine Verhöhnung des Männlichen darstellen. So werden die Jungs im Laufe ihrer Reise durchgängig dazu genötigt Früchte zu essen, die durch ihr saftiges Inneres und die haarige Schale stark an Vulven erinnern. Der sonst so omnipräsente Phallus wird hier durch das weibliche Genital verdrängt. Später erst erfahren wir, dass es die Macht dieser Vulven ist, die die Verwandlung der Jungen auslöst.

Der Prozess der geschlechtlichen Umwandlung geschieht in The Wild Boys fließend. So fließend, wie die (Körper)flüssigkeiten, die in vielen Situationen schamlos in Szene gesetzt werden. Bizarre Pflanzen spritzen ihren weißen Saft in die Kehlen der Gestrandeten. Der Schweiß rinnt unaufhaltsam an den beanspruchten Körpern hinunter. Und währenddessen vollzieht sich schleichend eine Wandlung, die vor dem Hintergrund der visuellen Phantasterei und der unentwegten Präsentation teilweise entzückender und teilweise verstörender filmischer Ideen zuerst kaum auffällt. Der Film bringt zusammen, was in der “echten” Welt so gerne diskursiv getrennt wird: geschlechtliche Fluidität und Natur. 

Keine Macht der Macht

Was aber definitiv auffällt ist die konsequente Trennung von Geschlecht und sexueller Orientierung der Protagonist_innen. Die fünf Jungen sind von Anfang als stark übersexualisiert markiert. In der unerträglich ästhetisierten Vergewaltigungsszene zu Beginn des Films tragen vor allem fratzengesichtige Masken dazu bei, dass ihre sexuelles Begehren als gewaltvoll und bedrohlich wahrgenommen wird. Dies ändert sich auch nicht in späteren Szenen, die gewaltsam ausgeübte Homoerotik zeigen. Doch mit dem Prozess der geschlechtlichen Verwandlung wird ihre Sexualität zunehmend weniger autoritär. Auf einmal empfinden sie zärtliche Zuneigungen zueinander sowie zum namenlosen Kapitän und Séverin und lassen ihren Sadismus hinter sich. Nur Jean-Louis wehrt sich stark gegen diese Entwicklung. Dafür wird er nach einem weiteren sexuellen Übergriff an seinem Freund Hubert schließlich auch mit dem Verlust seines Penisses bestraft. 

Die fünf Protagonist:innen stehen mit ihren Masken in einem nebligen Licht und starren direkt in die Kamera.

© Ecce Films

Die körperliche Metamorphose ist auch das letzte Stadium der Veränderung, die die Protagonist_innen durchlaufen. Mit stolzgeschwellten Brüsten stehen sie am Ende des Films Seite an Seite mit Séverin auf dem Festland. “Eine feminisierte Welt wird Kriege verhindern.”, erklärt der Arzt sein Experiment: “Die Frau ist die Zukunft, die Hexe ist die Zukunft.”. Doch welche Idee von Frau steckt letztendlich hinter The Wild Boys? Hierauf eine einfache Antwort zu finden, würde dem Wesen des Films nicht entsprechen, denn er lebt von seiner Fluidität und Uneindeutigkeit. Und vielleicht liegt auch gerade hier die Antwort verborgen, denn auch eine geschlechtliche Idee ist niemals starr. In seinem Spiel mit gleichbleibenden und gleichzeitig sich verändernden Körpern, geschlechtlichen Identitäten und Orientierungen macht der Film zwar klar, dass sein Ideal gewaltfrei ausgeübte Sexualität ist, doch weigert er sich diese in ein binäres Geschlechtersystem einzuordnen. Ästhetisch und inhaltlich kommuniziert der Film ein queeres Ideal, das in dieser Form für Zuschauende mit Massengeschmack zwar schwer auszuhalten ist, doch vielleicht ist es genau diese Erschütterung, die nicht nur das heteronormative Kino, sondern vor allem die heteronormative Gesellschaft braucht.

DVD-Start: 25.10.2019

 

Sophie Brakemeier