Doxumentale’25: Blue Road – The Edna O’Brien Story
Mit der Doku Blue Road – The Edna O’Brien Story schaut Regisseurin Sinéad O’Shea hinter die Karriere der ikonischen Autorin des irischen Charakters. Die Romane der Schriftstellerin Edna O’Brien sind von Beginn an von Radikalität geprägt. Als sie 1960 The Country Girls veröffentlicht, ist vor allem der religiös-konservative katholische – und damit ein großer – Teil Irlands in Aufruhr. Der erste Teil ihrer Trilogie über sexuelles Erwachen und Begehren junger Frauen wird in Irland verboten, in anderen Teilen der Welt, u. a. in den USA, gefeiert. In Zeiten, in denen im seit knapp 40 Jahren unabhängigen Irland das Wort Tampon öffentlich nicht vorkommen darf, Verhütung illegal ist und die laut Verfassung fest im häuslichen Leben verankerte Rolle der Frauen eben diese zu Menschen zweiter Klasse macht, schreibt O’Brien über all dieses Verschwiegene.
Ab 1994 widmet sich O‘Brien in ihren Werken noch umfangreicher den politischen und gesellschaftlichen Realitäten ihres Heimatlandes. Im selben Jahr, als im Nordirlandkonflikt erstmals offiziell Waffenstillstand herrscht, folgt die Schriftstellerin in ihrem Roman House of Splendid Isolation den Spuren der IRA und den Troubles. 1997 veröffentlicht sie Down by the River über ein junges Mädchen, das nach einer Vergewaltigung nach Möglichkeiten für eine Abtreibung sucht, in einem Land, in dem erst 2018 offiziell Abtreibungsverbote aufgehoben wurden.___STEADY_PAYWALL___

© Modern Films
Im Kontext dieser ereignisreichen Bibliographie bewegt sich Blue Road – The Edna O’Brien Story, ohne aber die Details künstlerischer Arbeit selbst zu sehr in den Fokus zu rücken. Vielmehr versammelt der Dokumentarfilm vielseitige Versatzstücke, um durch Skandale und Revolutionen von O’Briens Schaffen zu führen. Neben Spielfilmausschnitten, Archivmaterial aus Heimvideos, historischen Reportagen und Zeitungsausschnitten sowie neu gefilmten Bildern bilden vor allem bisher unveröffentlichte und nicht eingesehene Tagebucheinträge der Schriftstellerin sowie speziell für Blue Road geführte Interviews das Herzstück dieser Collage.
Dabei kommen viele Stationen in O’Briens Karriere zum Vorschein, die sich im Leben der Person hinter den Romanerzählungen aufgetan haben: Als obszöne Romanzenschreiberin verschrien, als Groupie der Sinn Féin denunziert und als Liebling der US-amerikanischen High Society wie Judy Garland über Shirley MacLaine bis hin zu Jane Fonda gefeiert, steht O’Briens Leben nie still. Auf ihre vielbeachteten Werke und öffentlichen Auftritte reagieren ihre Gegner*innen lautstark, darunter Sexist*innen, religiöse Radikale und Väterrechtler*innen. Stimmen, die O‘Brien ins Lächerliche ziehen, attackieren, bedrohen und sexistisch beleidigen, kommen aus Schriftsteller-Kreisen, diese vermeintlichen Genies, in deren Weltbild eine gefeierte Autorinnenschaft, wie sie O’Brien erlebt, nicht vorkommen kann. Zusätzlich hetzen Familienmitglieder wie der alkoholkranke Vater und die religiös-extremistische Mutter, Kirche und Konservative offen gegen die Schriftstellerin. Gegen sie alle schreibt O’Brien ein Leben lang an.

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Während diese Kritiker*innen O’Brien gerne verstummt gesehen hätten, verleiht ihr Blue Road gleich zwei Stimmen. Zum einen liest Schauspielerin Jessie Buckley Ausschnitte aus privaten Tagebucheinträgen O’Briens aus dem Off vor. Besonders die Abbildung dieser Einträge, die die Off-Stimme begleiten, zeigt deutlich die Ausmaße, die die Forderungen nach Zensur von O’Briens Stimme angenommen haben: Ernest Gébler, erster Ehemann der Schriftstellerin und selbst Autor, wird nach Erscheinen von O‘Briens erfolgreicher The Country Girls-Trilogie nicht nur behaupten, dass seine Korrekturen die ersten Fassungen der Romane überhaupt erst lesbar gemacht hätten, sondern wird seine Lügen bis hin zur Behauptung spinnen, dass eigentlich er alles geschrieben habe.
Sein Eingreifen in O’Briens Tagebucheinträge – ganz in strenger Oberlehrer-Manier mit Rotstift angefertigten Ergänzungen und Überschreibungen – ist dann kaum überraschend, wenn auch ein beinahe zu unglaublicher, wortgetreuer Versuch, die Arbeit einer Autorin auszulöschen. Selbst Regisseurin Sinéad O’Shea ist überrascht von solch einem Übergriff, kann nicht recht glauben, dass die Schrift in roter Farbe wirklich von Gébler stammt. Als sie einen der Söhne des Paares befragt, ob das wirklich sein kann, dass der Vater auf diese Art in die privatesten aller Schriften seiner Mutter eingreift, zeigt dieser sich wenig überrascht, zweifelt nicht, dass der Vater das war.
Neben diesen Einblicken in das Privatleben O’Briens durch Interviews mit den beiden Söhnen Sasha und Carlo, kommen auch Akademiker*innen und Autor*innen zu Wort, um den Stellenwert von O’Briens Romanen zu umfassen. Diese Stimmen machen eine Einordnung ihres Werkes, die Diskriminierung gegenüber ihrer Person sowie inhaltlich ausgearbeitetere Kritik, die z. B. auf die Verantwortung der Autorin gegenüber wahren Lebensrealitäten verweist, möglich.

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Als zweite Stimme O’Briens tritt die Schriftstellerin selbst in Blue Road auf. Ein Großteil der Doku, und auch ihr beeindruckendster Teil, umfasst Interviews mit der damals 93-Jährigen. Selbst nach einem Krankenhausaufenthalt kehrt sie für die finalen Interviews dieses Psychogramms vor die Kamera zurück. Es sind bedachte Momente, die hier von O‘Shea eingefangen werden. Blue Road fokussiert sich auf Stationen, die die Autorin zurückblicken lassen; auf ein Elternhaus, geprägt von radikaler Religiosität, Gewalt und Alkoholismus, auf Nachtrennungsgewalt bei der Scheidung von Gébler oder auf O’Briens Selbstbild, wie sie mit aller Kritik umgeht, die in ihre Richtung ausgeteilt wurde. Geduldig spricht die Schriftstellerin darüber, wie ihr immer wieder viel Wut und Hass im Privaten wie im öffentlichen Leben begegnet ist. Dass sie die daraus entstandenen Verletzungen nie überwunden hat, gibt sie offen zu.
Am Ende ist Blue Road keine detaillierte Auseinandersetzung mit O’Briens Werken, kritisiert oder lobt nicht deren Inhalte auf literaturwissenschaftlicher Ebene oder spricht weitläufig über ihren Einfluss. Das reicht so weit, dass Blue Road den zeitlichen oder gesellschaftlichen Kontext, in dem O’Briens Romane erschienen sind, teilweise etwas zu knapp anschneidet. Vielmehr ist die Doku aber ein Einfangen des Umgangs mit radikaler Autorinnenschaft in der Literaturbranche, in der Gesellschaft, in der Familie. So ist Blue Road ein Künstlerinnen-Porträt, das vor allem über Formen der Gewalt berichtet. Gewalt mit dem Ziel zu zensieren, zum Stillschweigen zu bewegen und die Relevanz von Autorinnenschaft in Frage zu stellen. O’Briens persönliche Einblicke sind dabei vor allem unbedingt im Kontext irischer Geschichte und Gesellschaft zu verstehen, aber lange kein Einzelschicksal.
Blue Road – The Edna O’Brien Story ist als Deutschlandpremiere bei der Doxumentale’25 zu sehen.
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