Die perfekte Kandidatin

Nachdem Haifaa Al-Mansour unter anderem mit Mary Shelley thematisch ihre saudi-arabische Heimat verlassen hatte, kehrt sie mit Die perfekte Kandidatin sowohl inhaltlich wie auch optisch zu ihrem Langfilmdebut Das Mädchen Wadjda zurück. Auch in ihrem neuen Film erzählt Al-Mansour vor der Kulisse ihres Heimatlandes die Emanzipationsgeschichte einer jungen Frau.

Maryam (Mila Al Zahrani) ist Ärztin und als solche in ihrem Krankenhaus im ländlichen Saudi-Arabien von extremer sexistischer Diskriminierung betroffen. Nicht nur dass Patienten sich handgreiflich gegen ihre Behandlung wehren, auch ihre Vorgesetzten schicken in solchen Fällen lieber einen Pfleger als die Hilfesuchenden von der Kompetenz der Ärztin zu überzeugen. Um während der Abwesenheit ihres Vaters und Vormunds eine Reiseerlaubnis zu erwirken, beantragt Maryam zum Schein die Kandidatur zur Stadträtin. Doch je mehr sie sich mit der Lokalpolitik beschäftigt, desto überzeugter ist sie schließlich, die perfekte Kandidatin zu sein, und zieht in den Wahlkampf.

Maryam im Krankenhaus. Sie trägt einen weißen Kittel und ein schwarzes Kopftuch. Ihr Patient, ein älterer Mann, sitzt neben ihr und zeigt ihr seinen dunklen Daumen.

© Neue Visionen

Im Saudi-Arabien von Das Mädchen und Wadjda und Die perfekte Kandidatin ist in den acht Jahren, die zwischen den Filmen liegen, eine ganze Menge passiert. Stand Wadjdas Mutter noch vor der Herausforderung, ohne männlichen Fahrer nicht zur Arbeit zu gelangen, hat Maryam ein eigenes Auto. Ihre Schwester Selma (Dae Al Hilali) ist als Hochzeitsfilmerin selbstständig und Vater Abdulaziz (Khalid Abdulraheem) kann als Musiker auf Tournee gehen – eine Möglichkeit, die ihm auf Grund des kunstfeindlichen politischen Systems lange verwehrt gewesen ist. Während Haifaa Al-Mansour diese positiven gesellschaftlichen Entwicklungen sichtbar macht, richtet sie den Blick zugleich unweigerlich auf die noch immer vorherrschende Unterdrückung und Diskriminierung von Frauen. Auffällig ist dabei der Respekt, mit der sie den Männern ihrer Kultur gegenübertritt. Bei den meisten handelt es sich um ausgesprochen freundliche, wenn auch erzkonservative Personen, die weniger bösartig als irregeleitet und Opfer desselben restriktiven Systems erscheinen.

Salma in einem festlichen Kleid hinter einer Videokamera. Sie lacht strahlend. Im Hintergrund eine Hochzeitsgesellschaft.

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Ohnehin überzeugt Die perfekte Kandidatin durch den Verzicht auf Klischees, insbesondere auf dramaturgischer Ebene. Einerseits konventionell aufgebaut und somit klar auf ein breites Publikum ausgerichtet, verzichtet der Film schließlich auf die tradierten Wendungen wie auch den Pathos, den eine solche Heldinnengeschichte anböte. Hierdurch erreicht Haifaa Al-Mansour Lebensnähe: Die perfekte Kandidatin ist kein Märchen, in dem komplexe Zusammenhänge auf wundersame Weise einfach aufzulösen sind, sondern eine Annäherung an reale Zustände. Die Welt ist eben nicht an einem einzigen Tag zu retten.

Zugleich gibt Al-Mansour ihrer Geschichte Wirkungsmacht über den konkreten Einzelfall hinaus. Maryam, die zunächst nur für die Asphaltierung der Zufahrtsstraßen zum Krankenhaus eintritt, entwickelt sich im Zuge ihres Wahlkampfs und auf Grund der sexistischen Gegenreaktionen auch zu einer Frauenrechtlerin. Damit vollzieht sie eine Entwicklung, in der sich viele Feminist:innen unabhängig von ihrem Herkunftsland wiederfinden dürften. Entscheidend für den Ermächtigungsprozess ist dabei die Informationsquelle Internet. Es ist als würde Haifaa Al-Mansour allen benachteiligten und diskriminierten Personen dieser Welt mit ihrem Film einen subtilen Hinweis geben: Hier ist alles was ihr braucht, um eure Stimme kraft- und wirkungsvoll zu erheben! Damit formuliert sie aber nicht nur eine Hilfestellung, sondern auch einen Aufruf zu Ermächtigung und politischem Engagement. Das Werkzeug ist direkt vor Eurer Nase, also ergreift es!

Maryam mit einem Mikrofon und einem Zettel, von dem sie ihre Reden abliest. Im Hintergrund die farbenfrohe Dekoration einer Feier.

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Der stärkste Moment der Emanzipation für die perfekte Kandidatin Maryam verbirgt sich schließlich aber nicht im politischen Siegeszug oder einer Arbeitsstelle außerhalb Saudi-Arabiens, sondern in der Aussöhnung mit den eigenen familiären und kulturellen Wurzeln. Was als konservative Botschaft à la „Schusterin, bleib bei Deinen Leisten“ verstanden werden könnte, ist hier vielmehr der Aufruf zur Selbstliebe als notwendige Quelle jeden Engagements für eine bessere und gerechtere Welt. Wenn Maryam am Ende für einen Abend in die Fußstapfen ihrer Mutter tritt, ist das nicht nur der ultimative Ausdruck von Respekt für die verstorbene Sängerin, sondern auch ein Statement der Selbstbehauptung. Die Tochter einer Sängerin zu sein, wird für die Heldin vom gefühlten Manko zur Stärke. Denn auch Maryams große Kraft liegt im Erheben ihrer Stimme!

Kinostart: 12. März 2020

Sophie Charlotte Rieger
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