DVD: MARY SHELLEY

von Leena M. Peters

Mary Wollstonecraft Godwin (Elle Fanning) ist die Tochter des Sozialphilosophen William Godwin und der feministischen Autorin Mary Wollstonecraft, die kurz nach der Geburt ihrer Tochter verstarb. Als 16-jährige im frühen 19. Jahrhundert interessiert sich Mary eigentlich mehr für Schauergeschichten als für zeitgenössische politische Werke, die der Vater ihr zu lesen gibt. Auch für die eigene schriftstellerische Arbeit sucht sie noch nach ihrer unverwechselbaren Stimme. Da tritt der ehrgeizige und rebellische Dichter Percy Bysshe Shelley (Douglas Booth) in ihr Leben und es beginnt eine Zeit voll wilder Romantik, aber auch schmerzhafter Verluste und traumatischer Verletzungen. Auf dem Nährboden menschlicher Enttäuschungen, Depressionen und der Faszination mit dem Galvanismus entsteht ihr wichtigstes Werk: Frankenstein oder Der moderne Prometheus – doch niemand will glauben, dass eine 18-jährige Frau* dieses literarische Monstrum geschaffen hat.

Regisseurin Haifaa Al-Mansour ist selbst eine bemerkenswerte Frau*. 2012 drehte sie in Saudi-Arabien – einem Land, in dem Kino bis ins vergangene Jahr verboten war – Das Mädchen Wadjda, die Geschichte eines Mädchens* in Saudi-Arabien, das Fahrradfahren will, obwohl ihr dies nach der dortigen Auffassung des Korans verboten ist. Mit Hilfe ihrer deutschen Produzenten konnte sie unter schwierigsten Voraussetzungen einen Film über weibliche* Selbstbehauptung in einer patriarchalen Gesellschaft machen, der als Sensation auf den Filmfestspielen von Venedig gefeiert wurde und mehrere internationale Preise gewann. Der Erfolg ihres Filmdebüts gilt als Grund, warum Saudi-Arabien sein Kino-Verbot lockern will. Al-Mansour hat also bereits Kinogeschichte geschrieben.

Mit Mary Shelley ist sie nun auch di_er erste Filmschaffende aus Saudi-Arabien, di_er in Hollywood drehte. Wenn die völlig anderen Voraussetzungen im Budget und den Drehbedingungen für sie eine Umstellung bedeuteten, ist dies ihrem aktuellen Werk keinesfalls anzusehen. In den detailfreudigen Sets und historisch stimmigen Kostümen beweist Al-Mansour ein hervorragendes Gespür für die Zeit und Welt Shelleys. Die Szenen sind von natürlichem Licht erhellt, das am Tag vom wolkenverhangenen Himmel fahl erscheint, in der Nacht warm von Kerzen oder dem Kamin gespendet wird. Das Lebensgefühl der Epoche fängt Haifaa Al-Mansour in langen, langsamen Fahrten ein, immer wieder bildet eine Person das Zentrum einer Totalen, dazwischen Blicke in den Himmel und die idyllische Natur: Die Regisseurin schafft mit ihren Bildern eine Atmosphäre wie in Gemälden der Romantik, in der die Schauerromane Shelleys und ihrer Zeitgenoss_innen verortet sind.

© Prokino 2019

Ihrem Interesse an außergewöhnlichen Frauen*, die sich nicht von der herrschenden Moral einschränken lassen, ist sie treu geblieben: Ihre Protagonistin Mary Shelley zeichnet sie als ebenso empfindsame wie durchsetzungsstarke Frau*. Elle Fanning ist dafür eine hervorragende Besetzung, mit einer fragil wirkenden Physis, die sie überzeugend zur Darstellung mühevoll kontrollierter, kraftvoller Emotionen einsetzt. Dabei bleiben die Gesten sparsam, Al-Mansour lässt vor allem die Blicke von den Beziehungen der Figuren erzählen. Mit ihrer Stiefschwester Claire (ebenfalls wunderbar besetzt mit Bel Powley) verbindet Mary eine liebevolle Solidarität. Sie geben einander seelischen Halt, den sie in ihren romantischen Beziehungen nicht finden. Vor dem Hintergrund dieser Freund_innenschaft spielen sich die stürmische Beziehung Marys mit Percy Bysshe Shelley, aber auch Claires Affaire mit Lord Byron (Tom Sturridge) ab. Es sind die Erkenntnis männlicher* Privilegien im England des frühen 19. Jahrhunderts, die Mary mit Claire teilt, während Percy und Byron dafür gänzlich blind zu sein scheinen, und es ist die Ahnung, welche Gefahr in sozialer Isolation für sie liegt, die die beiden zusammenschweißt. Haifaa Al-Mansour setzt immer wieder die Blicke der Frauen* untereinander, aber auch die Blicke auf sie, pointiert ein und gibt damit nicht nur Einsicht in die Gefühlswelt der Figuren, sondern auch in die Gesellschaft, die ihren Gefühlen meist keinen Raum gewährt.

© Prokino 2019

Dass sich das Drehbuch von Autorin Emma Jensen vor allem auf die Liebesgeschichte konzentriert, ist der einzige Wermutstropfen. Zwar fügt das Voice-Over mit Texten aus Mary Shelleys und Percy Bysshe Shelleys Feder auch einen Teil ihrer literarischen Entwicklung hinzu, doch endet der Film nach der Veröffentlichung Marys ersten, zugegebenermaßen wichtigsten Werkes. Sie war zu diesem Zeitpunkt 18 Jahre – das Leben der echten Mary Shelley endete erst mit 53 Jahren, nach weiterhin erfolgreicher Arbeit als Autorin und Verlegerin. Somit bleibt der Film im Prinzip auch eine Erzählung über die Entstehung des Romans Frankenstein. Auch wenn nachvollziehbar ist, dass die tatsächlich komplexeren Verhältnisse der realen Person zugunsten eines spannenden und verständlichen Filmplots beschnitten werden müssen, ist das eine etwas bedauerliche Reduktion dieser spannenden Frau*. Insbesondere das angedeutete „Happy Ending“, die scheinbare Lösung der menschlichen wie strukturellen Probleme, an denen die Beziehung Marys zu Percy über den Verlauf des Filmes leidet, mutet etwas zu leicht verdaulich an. Nicht, weil offene Beziehungen oder die „freie Liebe“ nicht „glücklich enden“ könnten, sondern weil Liebesbeziehungen grundsätzlich nicht nach einem einzigen emotionalen Höhepunkt des Bekenntnisses plötzlich konfliktfrei ablaufen – mit dem „Happy Ending“ geht in der Realität die emotionale Arbeit erst los.

Nichtsdestotrotz sind diese Kritikpunkte verzeihlich, denn der Film ist erzählerisch und filmisch gelungen; außerdem sprechen Emma Jensen und Haifaa Al-Mansour mit Mary Shelleys für ihre Zeit feministisch wie humanistisch radikalen Überzeugung noch immer aktuelle Themen an. Die „freie Liebe“ ist inzwischen als Lebensmodell der Polyamorie bekannt, wenn auch nicht als der monogamen Liebe gleichwertig anerkannt, für die sexuelle Selbstbestimmung der Frau* streiten wir noch heute – und die Verleugnung und Verdrängung der Errungenschaften weiblichen* Schaffens klingt noch immer in unseren Kanons nach und bleibt gängige Praxis. So ist zu hoffen, dass Mary Shelley das Publikum dazu einlädt, sich, wenn schon nicht mit dem Roman Frankenstein, dann doch mit seiner Verfasserin weiter auseinanderzusetzen.

DVD-Veröffentlichung: 9. Mai 2019

Leena M. Peters
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