Der Russe ist einer, der Birken liebt – Pola Beck und Olga Grjasnowa im Interview

Mascha (Aylin Tezel) ist Ende zwanzig und angehende Dolmetscherin. Sie spricht fünf Sprachen, bekommt im Studium durchgehend Bestnoten und hat „die richtigen” Praktika absolviert. Mit ihrem besten Freund Cem (Sohel Altan Gol) dolmetscht sie neben dem Studium auf Kongressen, die beiden sind ein eingespieltes Team. Die Chancen, eine der heiß begehrten Stellen als Übersetzerin bei den Vereinten Nationen zu ergattern, stehen gut. Gemeinsam mit ihrem Freund Elias (Slavko Popadić) und Stapeln von Wörterbüchern wohnt Mascha in einer Kölner Altbauwohnung. Ihr Leben läuft in geordneten Bahnen, bis Elias eines Tages zum Fußball geht und nicht nach Hause kommt.

Der Russe ist einer, der Birken liebt_Plakat

© Port au Prince Pictures

Pola Beck hat mit Der Russe ist einer, der Birken liebt den gleichnamigen Roman von Olga Grjasnowa verfilmt. Sie erzählt die Geschichte elliptisch, verwebt sie zu einem narrativen Geflecht aus Erinnerungen, deren zersplitterte Struktur Maschas Trauer widerspiegelt. So entsteht ein Film über Trauer und Verlust, über das Weglaufen und das Ankommen bei sich selbst.

Im Interview sprechen Pola Beck und Olga Grjasnowa über den Weg vom Roman zum Drehbuch, über das Loslassen, die Arbeit mit den Schauspielenden und darüber, was es bedeutet, aus einer weiblichen Perspektive zu erzählen.___STEADY_PAYWALL___

Regisseurin Pola Beck © Kasimir Bordasch

Pola Beck © Kasimir Bordasch

Pola, was hat dich an der Geschichte von Der Russe ist einer, der Birken liebt gereizt?

Pola Beck: Vor mittlerweile mehr als zehn Jahren hat mein Agent mir das Buch in die Hand gedrückt und meinte, das könne was für mich sein. Es gibt Geschichten, die sich nach dem Lesen anfühlen, als hätte man eine Reise gemacht. Man ist dann völlig erledigt und gleichzeitig total erfüllt. So ging es mir mit Olgas Buch. Mascha, die Hauptfigur, hat mich sehr berührt. Ihre Suche nach einem Platz im Leben, die Art, wie sie sich nimmt, was sie will, und die Kämpfe, die sie aussteht, haben mich mitgenommen.

Einerseits wollte ich also von dieser Frau erzählen. Andererseits hatte ich das Gefühl, dass Mascha uns etwas über das Leben mitgibt und darüber, wie man mit Verlust und traumatischen Erlebnissen umgehen kann. Diese Lebenskraft wollte ich in einen Film übertragen.

Was mich an dem Buch außerdem gereizt hat, ist Olgas Humor, ihr feiner Witz und diese teilweise absurden Szenarien in den traurigsten Momenten. Ich hoffe, dass das auch im Film spürbar wird. Es gibt da lustige und auch strange Situationen, bei denen man schmunzeln darf, obwohl es todtraurig ist.

„Aylin hat diese Kraft von Mascha in sich und dieses Kosmopolitische, dieses Rastlose.”

Weshalb war Aylin Tezel in euren Augen die Richtige für die Rolle der Mascha?

Olga Grjasnowa: Weil Aylin eine fantastische Schauspielerin ist.

Pola Beck: Es war eine große Frage, wie man den Film besetzt. Mascha spricht fünf Sprachen und ist eine richtige Kosmopolitin. Sie hat nicht nur eine russische Identität oder eine jüdische oder eine deutsche Identität, sondern sie hat diese verschiedenen Identitäten gleichzeitig, je nachdem, mit wem sie gerade zusammen ist. Mir war es sehr wichtig, für die Rolle jemanden zu besetzen, die das selbst als Person lebt und ausstrahlt. Aylin hat sowohl deutsche als auch türkische Wurzeln, sie ist ständig unterwegs und nirgendwo so richtig zu Hause. Aylin hat diese Kraft von Mascha in sich und dieses Kosmopolitische, dieses Rastlose.

Außerdem bringt Aylin eine unglaubliche emotionale Bandbreite mit. Sie kann einen tief berühren, aber sie hat auch diese Wucht, die Mascha hat. Außerdem hat sie die Gabe, dass man als Zuschauer:in emotional an sie herankommt, selbst in Momenten, wo Mascha sich extrem verhält. Es ist Aylin zu verdanken, dass man dann trotzdem bei ihr sein möchte und sie am liebsten in den Arm nehmen würde.

Selbstflucht: Mascha verliert sich im Nachtleben © Port au Prince Pictures / Juan Sarmiento G.

© Port au Prince Pictures / Juan Sarmiento G.

Dadurch, dass der Film Der Russe ist einer, der Birken liebt elliptisch erzählt, sind die Szenen zwischen den Figuren teilweise recht kurz. Trotzdem spürt man da stets eine große Intimität und ein Vertrauen. Wie habt ihr das erarbeitet, Pola?

Pola Beck: Erst mal haben wir einen Ensembleworkshop bei Teresa Harder besucht und eine Rollenaufstellung gemacht. Das ist so ähnlich wie eine Familienaufstellung. Dabei geht es darum, die Dynamiken zwischen den verschiedenen Figuren nachzuvollziehen. Diese Rollenaufstellung bildet die Basis des Films. Danach haben wir kleinere Szenen improvisiert und dabei mit einer Methode gearbeitet, die SourceTuning heißt. Die Schauspieler:innen verorten in ihrem Körper, wo Menschen, mit denen ihre Figur verbunden ist, sich befinden. Sie überlegen, was dabei im Körper passiert, was für Energien diese Menschen erzeugen. Das klingt zunächst sehr esoterisch, ist aber vor allem für Schauspieler:innen, die körperlich arbeiten, enorm hilfreich.

Die Nähe zwischen den Figuren rührt auch daher, dass wir viel Zeit miteinander verbracht haben. Wir sind zum Beispiel schon vor dem Dreh mit Aylin und Sohel als Mascha und Cem in eine Bar gegangen und haben geschaut, wie die beiden in ihren Rollen zusammen sind. In Tel Aviv hatten wir dann wegen des Lockdowns ein Hotel ganz für uns alleine. Dort haben wir auch viel Zeit miteinander verbracht.

Hinter den Kulissen: Regisseurin Pola Beck am Set mit Cast & Crew Copyright: © Port au Prince Pictures / Daniel Grünfeld

Hinter den Kulissen: Regisseurin Pola Beck am Set mit Cast & Crew © Port au Prince Pictures / Daniel Grünfeld

Ich glaube, es ist wichtig, loszulassen. (…) Entweder ich lasse Pola freie Hand, oder ich adaptiere das Buch selbst. Dann hätte ich es aber auch selbst verfilmt.”

Olga, hattest du Vorbehalte, was die Verfilmung von Der Russe ist einer, der Birken liebt angeht? Und hättest du dir vorstellen können, das Drehbuch zum Film selbst zu schreiben?

Olga Grjasnowa: Das Buch wurde vor der Filmadaption schon an mehreren Theatern aufgeführt. Ich wusste deshalb, dass es ein Stoff ist, der sich auch übertragen lässt. Ich konnte mir allerdings nicht vorstellen, den Film selbst zu adaptieren. Das ist meiner Meinung nach unmöglich. Zumindest wenn sich nichts verändert. Ich habe das Buch ja extra als Roman angelegt und nicht als Drehbuch. Während des Schreibens habe ich eine ganze Reihe dramaturgischer Entscheidungen getroffen, die für mich nur in Romanform zu lösen waren.

Hattest du bestimmte Wünsche oder Vorstellungen an den Film?

Olga Grjasnowa: Ich glaube, es ist wichtig, loszulassen. Ich hätte mich natürlich liebend gerne alle fünf Sekunden eingemischt, aber ich weiß nicht, ob uns das weitergeholfen hätte. Für mich war es einfacher, das Projekt komplett aus der Hand zu geben. Entweder ich lasse Pola freie Hand, oder ich adaptiere das Buch selbst. Dann hätte ich es aber auch selbst verfilmt.

Pola Beck: Als das Drehbuch in den letzten Zügen war, hat Olga den Entwurf noch einmal gelesen. Anschließend haben wir uns zusammengesetzt und konnten ganz viele Fragen stellen. Da ging es dann zum Beispiel um das Thema der Emigration, das viel näher an Olga dran ist als an mir. Mir war es wichtig, mich über Maschas Vergangenheit, ihre Kindheit und was sie im Krieg erlebt hat, mit Olga auszutauschen, um sicherzustellen, dass das geschichtlich richtig ist.

„Das Schöne ist, dass jetzt zwei völlig eigenständige Versionen nebeneinander existieren.”

Was ist eurer Meinung nach der Hauptunterschied zwischen dem Buch und dem Film Der Russe ist einer, der Birken liebt?

Olga Grjasnowa: Der Hauptunterschied ist für mich, dass der Bergkarabachkonflikt komplett aus dem Film geflogen ist. Damit gibt es natürlich keine Begründung mehr für Maschas Trauma, das wurde anders gelöst. Ich habe das Buch geschrieben, weil ich über den Bergkarabachkonflikt und vor allem über die Pogrome an den Armenier:innen dort sprechen wollte. Die Geschichte, die im Jetzt passiert, hat mich gar nicht so sehr interessiert wie das, was in der Vergangenheit geschehen ist.

Pola Beck: Das Buch hat einen etwas anderen Fokus als der Film. Ich bin sehr stark von Mascha ausgegangen und wie sie sich trotz all ihrer Verluste mit so einer Kraft durchs Leben kämpft. Wir haben uns auch vor dem Hintergrund der Frage, was sich in filmischer Form überhaupt umsetzen lässt, dafür entschieden, den Fokus auf Mascha im Hier und Jetzt zu legen.

Ankunft: Mascha in Tel Aviv Copyright: © Port au Prince Pictures / Juan Sarmiento G.

© Port au Prince Pictures / Juan Sarmiento G.

Ich fand sehr interessant, Olga, dass du gesagt hast, die Mascha im Film ist eine andere Figur als die Mascha im Buch. Das passt vielleicht auch zu diesem Loslassen, von dem du gesprochen hast. Der Film basiert auf dem Buch, aber ist am Ende eine andere Erzählung mit einer anderen Figur.

Olga Grjasnowa: Klar. Das Schöne ist aber, dass jetzt zwei völlig eigenständige Versionen nebeneinander existieren. Das eine ist das Buch und das andere ist, wie Pola und ihr Drehbuchautor Burkhardt Wunderlich den Stoff neu erschaffen haben.

Pola Beck: Ich finde, aus einem Kunstwerk etwas Neues formen zu dürfen, ist ein wunderbares Geben und Nehmen. Es war toll, sich an diesem erzählerischen Schatz bedienen zu können, auch wenn wir teilweise eine neue Form für das Material finden mussten. Ich bin Olga total dankbar dafür, dass sie das Buch losgelassen hat, weil nur so ein kreatives Schaffen stattfinden konnte.

Ich möchte ja nicht auf Teufel komm raus einen Roman verfilmen, wenn die Autorin spürt, dass mein Weg nicht der richtige ist. Es muss ein Einverständnis geben, dass ich etwas Neues schaffen darf, das dann auch mit mir zu tun hat. Denn nur so kann ich einen guten Film machen.

Olga Grjasnowa: Genau. Und da ist es wirklich nicht meine Aufgabe, daneben zu sitzen und zu sagen „Aber auf Seite 63, da steht das anders”. Ich glaube nicht, dass wir da irgendetwas von hätten.

„Die weibliche Perspektive hat für mich etwas Modernes, Weitsichtiges.”

In deinem Regiestatement schreibst du, dass es dir wichtig war, Der Russe ist einer, der Birken liebt konsequent aus einer weiblichen Perspektive zu erzählen. Was macht diese weibliche Perspektive für dich aus?

Pola Beck: Vor ein paar Jahren hat mir mal jemand gesagt, ich würde Frauenfilme machen. Das hat mich ziemlich irritiert und ich wehre mich gegen diesen Begriff. Erstens erschließt sich mir nicht, was ein Frauenfilm sein soll, und zweitens würde ich als Zuschauerin nie in einen „Frauenfilm” gehen wollen. Die weibliche Perspektive hat für mich etwas Modernes, Weitsichtiges. Für mich bedeutet das zum Beispiel, sich zu trauen, Figuren komplexer zu erzählen, Gefühle darzustellen und dabei auch Widersprüche zuzulassen. Ich bin mir gar nicht sicher, ob das etwas explizit Weibliches ist, vielleicht ist das auch einfach die Art, wie ich Filme mache.

Eine weibliche Perspektive auf Frauenfiguren lässt in meinen Augen beispielsweise zu, dass Frauen auch aggressiv sein dürfen, dass sie schreien dürfen. Ich erlaube meinen weiblichen Figuren, nervig zu sein, laut zu sein, sich danebenzubenehmen. Ich versuche, sie nicht zu verschönern oder angenehm zu machen, sie nicht zu sexualisieren. Aber das mache ich gar nicht so bewusst, sondern einfach, weil alles andere sich nicht richtig anfühlt.

Große Freiheit: Mascha und Tal in der Wüste Copyright: © Port au Prince Pictures / Juan Sarmiento G.

© Port au Prince Pictures / Juan Sarmiento G.

Ihr habt einen Film mit sehr schönen Bildern gemacht. Ich hatte den Eindruck, dass es hier einen Gegensatz gibt zwischen Form und Inhalt.

Pola Beck: Mir war es wichtig, dass die Bilder eine poetische Ebene haben, die spürbar, aber nicht greifbar ist. Für mich macht diese Art der Bildsprache einen Kinofilm aus und wir haben bewusst einen Film für die große Leinwand gedreht. Wir scheuen nicht davor zurück, dass die Bilder eine Schönheit haben, die fast wehtut, die uns Maschas Schmerz spüren lässt, ohne dass alles düster sein muss. Ich wollte hier lieber mit Kontrasten arbeiten, statt ihr Innenleben eins zu eins zu abzubilden. Gerade wenn eine Figur sehr viel Trauriges erlebt, ist es mir wichtig, diese Trauer erträglich zu machen. Filme, die zu hart oder unerträglich sind, schaue ich selbst nicht gerne.

„Mit Der Russe ist einer, der Birken liebt, wollte ich einen sinnlichen Film drehen, der aber nicht jedem gefallen muss, der herausfordert und an dem man sich reiben kann.”

Der Film erzählt nicht chronologisch, sondern elliptisch. Er springt zwischen Vergangenheit und Gegenwart hin und her und spiegelt damit auch Maschas Trauerprozess, der eben nicht linear ist.

Pola Beck: Dieses Hin- und Herspringen zwischen den zeitlichen Ebenen spiegelt Maschas Gefühlswelt und ihren mentalen Zustand. Sie ist auf der Suche und diesen Prozess macht man als Zuschauer:in mit ihr durch. Vor allem am Anfang ist das eine Herausforderung, weil man sich zusammensuchen muss, was eigentlich mit Mascha passiert ist. Ich wollte diese filmische Form ausprobieren, weil sie sich für die Figur und für die Erzählung richtig angefühlt hat und weil mir klar war, dass der Film nicht zu brav werden darf.

Weshalb war es dir wichtig, dass der Film nicht zu brav wird?

Pola Beck: Als Filmemacherin weigere ich mich, Geschichten zu erzählen, die nur in meinem eigenen Dunstkreis herum dümpeln. Gerade der deutsche Film, vor allem im Fernsehen, konzentriert sich gern auf schöne Geschichten aus der gutbürgerlichen Mitte – das langweilt mich beim Zuschauen. Ich möchte etwas erzählen, das universeller ist, das vibriert. Ich möchte Filme mit Figuren machen, die sich zeitgemäß anfühlen und sich in einer Vielfalt zeigen, die nicht kleingeistig oder brav ist. Mit Der Russe ist einer, der Birken liebt, wollte ich einen sinnlichen Film drehen, der aber nicht jedem gefallen muss, der herausfordert und an dem man sich reiben kann.

Kinostart: 3.11.2022

Theresa Rodewald