Céline Sciammas Gesamtwerk in der Blu-ray-Box

Ende Juli 2022 erschienen erstmals Céline Sciammas bis dato gesammelten Werke, darunter ihr neuester Film Petit Maman – Als wir Kinder waren, als Blu-ray-Box mit einem Booklet, das aufgrund zahlreicher Hintergrundinformationen einen genaueren Blick lohnt. 

“Wir waren Kollaborateure. Meine ersten drei Filme arbeiteten mit dem Kino und dem Patriarchat“, zitiert darin Autorin Elif Batuman die französische Filmemacherin Céline Sciamma in ihrem Essay „Suche nach einer neuen, feministischen Filmsprache“. Der 42-seitige Text entpuppt sich als Highlight und als gewinnbringende Kontextualisierung der fünf Filme und des Schaffens- und Bewusstwerdungsprozesses der Regisseurin und Drehbuchautorin. Batumans zeitweise auch sehr persönlichem Text gingen einige Treffen mit Sciamma voraus. Von den Gegebenheiten rund um ihre Gespräche, von geschichtlich-sozialen Kontexten des Ortes Corgy-Pontoise, in dem Sciamma 1978 geboren wurde, und von Diskursen um die Darstellung von trans Figuren oder fehlendem sexuellen Konsens – all dies lässt die Autorin in ihre Betrachtung der fünf Werke einfließen.

© alamode film ___STEADY_PAYWALL___

Sciammas Filmografie, an deren Anfang die 2007 erschienene Coming-of-Age-Geschichte Water Lilies steht, wird gleichermaßen zum Spiegel einer Zeit und ihrer soziopolitischen Diskurse, die die queere Filmemacherin nach und nach sensibilisierten. Die uneinvernehmliche Sexszene zwischen der Schwimmerin Anne (Adèle Haenel) und einem Wasserballspieler in ihrem ersten Film hatte sie damals selbst nicht als Vergewaltigung betitelt, sondern lediglich als traurig empfunden, erklärt Sciamma. Es ist ihr Verweis auf den eigenen Lernprozess sexuelle Handlungen kritischer wahrzunehmen und die Macht der Worte für die Schärfung der Wahrnehmung zu nutzen. Denn zwischen den Jahren 2007 und 2022 drehte sie nicht nur weitere Filme, es flammte auch die #Metoo-Bewegung auf. In Frankreich sprachen sich Größen wie Catherine Deneuve öffentlich gegen diese aus, während auf der anderen Seite Sciamma und Haenel bei der Verleihung der Césars 2020 aus Protest gegen die Auszeichnung des offenkundigen Vergewaltigers Roman Polanski den Saal verließen. 

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Céline Sciamma lernte Adèle Haenel über die gemeinsame Arbeit an ihrem Debütfilm Water Lilies kennen, ging eine Liebesbeziehung mit ihr ein und arbeitete auch nach der Trennung weiter mit ihr, so auch für Porträt einer jungen Frau in Flammen – der Film, der der Regisseurin und Autorin wohl am meisten Aufmerksamkeit einbrachte. In der im 18. Jahrhundert angesetzten wunderschönen und tragischen Liebesgeschichte zweier Frauen erzählt Sciamma von lesbischem Begehren in einer Art, die geschlechtsbasierte Hierarchien für die Dauer der Begegnung zwischen Héloïse und Marianne ausblenden. Fragen der ästhetischen Darstellung, nach Repräsentation, nach dem Blick und der eigenen Erinnerung im Gegensatz zu einem interpretativ beeinflussten Abbild verbinden sich in ihrem vierten Werk mit dem Gefühl der Verliebtheit, der Sehnsucht und dem Schmerz. Wenn Sciamma von Liebe und Begehren erzählt, stellt sie zugleich Bilder konventionalisierter, generischer und zu Klassikern emporgehobener Narrative in den Schatten. Keine der beiden Protagonistinnen sollte eine Dominanz hinsichtlich Intellektualität, Geschlecht oder Klasse gegenüber der anderen einnehmen, so Sciamma im Interview, das sich als Special ebenso auf einer der DVDs befindet.

Autorin Batuman teilt den Booklet-Leser:innen mit, welch tiefgreifende Wirkung Porträt einer jungen Frau in Flammen auf ihr Leben hatte: Der Film stellte alles bisher Gesehene in den Schatten und erfüllte die eigene Sehnsucht nach einer alternativen Darstellung von lesbischem Begehren, die sich wie eine unerhoffte Befreiung von heterosexuellen Geschlechternormen anfühlte: „Erstmals wurde mir bewusst, in welcher Weise meine Vorstellungen von weiblichem Verhalten – von visuellem und auditivem Verhalten, das man beim, sagen wir mal, Sex oder Autofahren oder dem Schreiben eines Romans an den Tag legen soll – aus Filmen stammen. Dieses Gebaren, das sich in Gegenwart eines echten oder eines vorgestellten Mannes angemessen angefühlt hatte, erschien mir mit einem Mal fake und irrsinnig.“

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Die mit dem sozialen Geschlecht erlernten Alltagsperformances nehmen ebenso in Tomboy, Sciammas zweitem Spielfilm, eine zentrale Rolle ein. Auch hier geht es um die Suche nach der Identität im Spiegel der anderen und im Prozess der Entdeckung des eigenen Begehrens – in Tomboy mitunter schmerzhaft. Ein zehnjähriges Kind, das sich als männlich identifiziert, wird von Außen immer wieder in eine weibliche Rolle gedrängt, was seinen Höhepunkt in einer traumatischen Szene findet. Für Tomboy, Water Lilies und Girlhood – Mädchenbande arbeitete Sciamma mit dramatischen Wendepunkten nach Drehbuchregelwerk, die sie danach nicht mehr einsetzte. Batuman thematisiert auch die Reaktionen auf Girlhood – Mädchenbande, Sciammas dritten Spiel- und zugleich dritten Coming-of-Age-Film, der von einer Teenagerin of Color in einem Pariser Banlieue handelt. Während die Geschichte von Mariemes Kampf um Anerkennung und gegen den strengen Bruder, der den abwesenden Vater ersetzt, in der Mainstreampresse große Anerkennung erhielt, schlug ihm von Seiten Schwarzer Feminist:innen und Akademiker:innen reichlich Kritik entgegen: Die Verwicklung der Protagonistin in den Drogenhandel und die fehlende Erklärung zu Mariemes Familienhintergrund forcierten Klischees über Französ:innen of Color, so die Kritik. Sciamma erkannte die wertvollen Argumente aus der Community an, lernte, setzte ihre Schritte infolge sensibilisierter und gezielter gegen die auch von ihr selbst verinnerlichten patriarchale Verhältnisse und Erzählweisen.

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Dass Céline Sciamma eine Filmemacherin ist, die sich nicht gegen oder über ihr Publikum stellt, beweist sie auch in ihrem neuesten Film Petite Maman – Als wir Kinder waren. Ihre Arbeit daran sei von der Vorstellung eines kollaborativen Blicks geprägt: Die Zuschauer:innen sollten selbst die Held:innen der Geschichte sein, indem sie nach dem – gemeinsamen – Anschauen des Films von dessen Nachwirkung zehren sollten, vielleicht sogar davon träumen, sich austauschen. Kinder werden oft nicht nicht als Individuen wahrgenommen sondern als eine grobe Bevölkerungsgruppe in einen Topf geworfen, weshalb sie bei Sciamma in den Vordergrund rücken und ihre Gefühle und Gedanken ernst genommen werden. Petite Maman zeugt von einer Arbeit auf Augenhöhe zwischen der Filmemacherin und ihren Darstellerinnen. Wer auch immer bei Sciamma im Zentrum der Geschichte steht, als Publikum werden wir in ihrem Filmen stets in eine Welt eingeladen, in der keine Urteile vorherrschen, sondern eben jene Begegnungen auf Augenhöhe, in der zwei Figuren sich annähern, einander öffnen und auf emotionaler Ebene voneinander profitieren.

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Link zum Boxset hier.

Bianca Jasmina Rauch
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