Berlinale 2019: Normal
von Sophie Charlotte Rieger
Kaum ein Wort ist so gefährlich wie „normal“. Es ist maximal ausgrenzend, definiert einen vermeintlichen Standard dessen, wie Situationen, Dinge oder eben auch Menschen zu sein haben, und grenzt all jenes und jene aus, die der Norm nicht entsprechen. Es ist der Ursprung aller Formen von Diskriminierung.
„Normal“ ist es zum Beispiel für große Teile unserer Gesellschaft, dass es zwei voneinander grundsätzlich verschiedene Geschlechter gibt, die bei der Geburt anhand primärer Geschlechtsorgane definiert werden – nicht nur durch die Benennung Mann* und Frau*, sondern auch durch die Zuordnung von Eigenschaften und Interessen. Normale Mädchen* interessieren sich für Puppen, Jungen für Autos – so zumindest die sexistische Annahme. Und es sind eben jene Zuordnungen, die Regisseurin Adele Tulli in ihrem Dokumentarfilm Normal thematisiert.
Ihr Film beginnt, wie das Leben, mit Schwangerschaft. Wir sehen schwangere, anonyme Körper unter der Wasseroberfläche, also ohne Kopf, bei der Aqua-Gymnastik. Danach ein Mädchen*, dem Ohrlöcher gestochen werden und später einen Jungen* bei einem Motorradrennen. Nach diesem Muster reiht Tulli unkommentierte Momentaufnahmen von Einzelpersonen und Gruppen aneinander und rekapituliert damit Stereotypen binärer Geschlechter. Die pointierte Montage demonstriert auf diese Weise ohne Zeigefinger die Absurdität der Konstruktion männlicher* und weiblicher* Identitäten, lässt Raum für eigene Reflektion und Erkenntnisse. Normal ist nicht belehrend, sondern eröffnet subtil eine neue Perspektive auf Altbekanntes.
Doch der Grat zwischen kritischer Reflexion und – vermutlich ungewollter – Bestätigung von Stereotypen ist schmal. So zementiert gerade die Nebeneinanderstellung heteronormer Protagonist_innen die binäre Unterscheidung von männlich* und weiblich*, kann sie doch keine Alternative aufzeigen, keine Welt abseits der kritisierten Schein-Normalität.
Auch die Wahl der Fragmente wirft Zweifel auf. So gibt es weitaus mehr Passagen über Frauen*, deren Körper auffällig oft im Fokus steht, nicht selten durch einen männlichen* Kamerablick betrachtet. So beispielsweise, wenn kleine Jungen* eine Pole Dance Performance bestaunen, die hier vollends auf ihren voyeuristischen Aspekt beschränkt wird. Der im Anschluss gezeigte Blick in einen Boxring kontrastiert nur scheinbar, droht zu verschleiern, dass es sich beim Pole Dance ebenso wie beim Boxen um einen anspruchsvollen Sport handelt.
Andere Szenen wirken beliebig und deplatziert, wie die Aufnahmen einer großen Strandparty. Worin genau sich hier die „Normalität“ zeigt, bleibt unklar. Die Momentaufnahmen streitender Pärchen und posender junger Frauen* formulieren deutlich vagere Statements als beispielsweise Bilder von rosa Plastikbügeleisen für Mädchen*.
Auch das Finale, Aufnahmen einer homosexuellen Eheschließung, mag nicht so richtig Sinn ergeben und droht den Status Quo zu zementieren. Es unterscheidet sich so klar von den vorhergehenden heteronormativen Szenen, dass die Bilder im Bereich des Divergenten hängen bleiben und keine Auflösung oder Infragestellung der Norm bieten können.
So steckt Adele Tulli mit ihrem durchaus interessanten Konzept in den Ansätzen fest, führt zwar Alltagssexismen vor, die dem gendersensiblen Publikum zuweilen die Nackenhaare aufstellen, kann aber mit ihrem Film letztlich nur eine verneinende Botschaft formulieren: So geht es nicht. Aber wie dann?
Vielleicht ist diese lose Aneinanderreihung verschiedener Formen restriktiver Geschlechterkonstruktion lediglich ein meditativer Leitfaden, eine Sammlung von ersten Denkanstößen, um Interesse für weitere Überlegungen zum Thema Gender zu wecken. Dafür mag der Film dienlich sein, doch für die Abbildung des komplexen Themas normativer Geschlechtervorstellung fehlt Normal leider der Mut, unter jene Oberfläche zu tauchen, die er problematisiert. Schade.
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Dieser Film, der sich einem wichtigen Thema verpflichtet ärgert mich auf so vielen Ebenen. Dass man ein Kaleidoskop anbieten kann – schön – kann klappen. Aber ganz ohne eine Dramaturgie kommt man nicht aus. Und wenn etwas hier den Ton angibt dann die Beliebigkeit. Wie die Regisseurin selbst beim Q&A in Worthülsen sagte: Es ginge ihr um eine Beleuchtung von Alltag. Dann muss man aber fragen, wieso sie zum großen Teil das Späktakel wählt. Subtile Heteronormativität – das wäre eine Herausforderung gewesen. Dieser Film ist aber eine willkürlich zusammenhangslose und durch die Bank kommentierte Aneinanderreihung von späktakulären Offensichtlichkeiten (Prinzessinen-Mädchen-Schminken, Penis-Jungesellinenabschied etc.) die mich handwerklich und inhaltlich enttäuscht. Mehr noch – er macht sauer! Was für eine vertane Chance – und dann im Rahmen Berlinale – was für eine manierierte Bevormundung. Dabei gibt es zwei, drei wirkungsvolle Momente – einem Mädchen werden Ohrlöcher gestochen, das Bild steht lange und zeigt eine Vielzahl von Gemütszuständen. Wir sehen die Komplexität der Wirklichkeit, keinen Ausschnitt, der der These der Regisseurin dient. Alles gipfelt dann im katastrophalen Schluss einer Homo-Hochzeit münden über dem dann der Titel – NORMAL – einblendet. Die Regisseurin macht sich von jeder Deutungshaftung frei – dieses Ende sei neutral und offen für Auslegungen in jede Richtung. So funktioniert Haltung als Filmemacherin nicht. So funktionieren schlechte Filme.
[…] des Dokumentarfilms: „Die pointierte Montage demonstriert auf diese Weise ohne Zeigefinger die Absurdität der Konstruktion männlicher und weiblicher Identitäten, lässt Raum für eigene Reflektion und Erkenntnisse. Normal ist nicht belehrend, sondern […]