Berlinale 2019: Mr. Jones
von Sophie Charlotte Rieger
„Alle Tiere sind gleich, aber manche sind gleicher.“ Heute kennen wir alle diese Zeile aus George Orwells Fabel Die Farm der Tiere, die vom Scheitern der sozialistischen Idee und dem darin wurzelnden Totalitarismus berichtet. Nach dem Fall der Mauer und dem der Sowjetunion kennen wir auch alle die Schattenseiten des politischen Systems, das Gleichheit predigt, aber die Früchte der Arbeit aller nur einer kleinen Elite zu Gute kommen lässt. Wir kennen den Überwachungsstaat, die Zensur der Presse, Freiheitsberaubung, Folter, Hungersnöte. Ja, wenn wir heute den Begriff „Sozialismus“ oder den Namen „Stalin“ hören, dann ist unsere Assoziation in Mitteleuropa größtenteils eine ziemlich negative.
Mr. Gareth Jones (James Norton), der Held des neuen Films von Agnieszka Holland, weiß all dies noch nicht. Im Jahr 1933 begibt er sich auf eine Reise nach Russland, mit dem Ziel Stalin über seinen 5-Jahres-Plan zu interviewen. Woher, fragt sich der junge Journalist, kommt all das Geld, das in die russische Industrie fließt? Schon in Moskau kommen Gareth erste Zweifel und auf den Spuren eines verstorbenen Kollegen begibt er sich abseits der ihm erlaubten Wege in die Ukraine. Spätestens hier erweist sich die Mär vom Arbeiter_innenparadies Sowjetunion nicht nur als Märchen, sondern vor allem als Albtraum.
Mr. Jones ist in erster Linie ein klassisches historisches Bio-Pic, das dem Kinopublikum die Heldentaten der realen Hauptfigur sowie deren geschichtliche Epoche näher bringen möchte. Dabei etabliert Agnieszka Holland durch multiple Spiegelungen und das Einfangen aufmerksamer Blicke von Anfang an das beunruhigende Gefühl heimlicher Observation und somit einen Spannungsbogen, der in der ersten Filmhälfte stetig anzieht. In düsteren satten Farben zeichnet sich ein verschlagenes Bild der russischen Hauptstadt, deren Fassade zwar deutlich als solche erkennbar ist, jedoch zunächst keinen Blick auf die Wahrheit dahinter erlaubt.
Wenn Gareth Moskau und damit die sorgfältig gepflegte Kulisse verlässt, ist seine Proviant-Orange der einzige Farbtupfer zwischen weißem Schnee, schwarzer Kleidung und grauen Gesichtern. Die Hoffnungslosigkeit der verarmten und hungernden Landbevölkerung in der Ukraine vermittelt Holland mit dem Wechsel der Farben bereits durch die Ästhetik, verschont ihr Publikum dann jedoch nicht mit verstörenden Bildern abgemagerter Körper, weinender Kinder und aus der Not geborenem Kannibalismus.
Während ein Großteil der filmischen Mittel vornehmlich dazu dient, sich selbst als solche unsichtbar zu machen, um eine lückenlose filmische Illusion zu kreieren, arbeitet Agnieszka Holland immer wieder mit Montagen und Beschleunigung, um Momente erhöhter emotionaler Erregung zu illustrieren. Das kann eine unerwartete Sex- und Drogenorgie sein oder die Flucht vor bewaffneten Soldaten. Das Kinopublikum durchlebt mit Gareth seine emotionale Berg- und Talfahrt, seinen verbissenen Drang nach Wahrheit und Gerechtigkeit gegen alle Widerstände.
Unklar bleibt, weshalb diese Treue zur männlichen* Hauptfigur noch die Rahmung durch einen weiteren männlichen* Helden braucht: George Orwell (Joseph Mawie), den wir auf der Schreibmaschine die Farm der Tiere tippen sehen und dessen Zitate immer wieder in passenden Momenten im Off erklingen. Dabei stehen Jones und Orwell in keinem engeren Verhältnis, begegnen sich flüchtig in nur zwei kurzen Szenen. Zweifelsohne illustrieren die Bilder des sogenannten Holodomor, der menschengemachten Hungersnot in der Sowjetunion der 1930er Jahre, den Kern von Orwells Fabel. Doch geht es hier wirklich nur um das erbarmungslose Enttarnen der sozialistischen Ideologie?
In Moskau gerät Gareth mit seiner Kollegin Ada (Vanessa Kirby), übrigens die einzige für den Plot relevante Frauen*figur, in einen Streit über den Begriff der Wahrheit. Während Ada von unterschiedlichen Perspektiven und Wahrheiten ausgeht, beharrt Jones auf der einen, objektiven, die der Journalismus abbilden kann. Geht Agnieszka Holland ebenfalls davon aus, dass ihre filmische Version des Holodomor die objektive Wahrheit darstellt? Ihr Urteil über den Sozialismus zumindest ist überdeutlich. Da ihr Film der Titelfigur absolut treu bleibt, ist deren vernichtende Haltung mit der des Films identisch.
Was aber ist die Alternative? Die kapitalistische Gegenseite bekleckert sich in Mr. Jones ebenso wenig mit Ruhm. Es scheint, als sei die Welt zum Spielball gleichsam ungerechter und unmoralischer Herrschaftssysteme geworden, die – wenn auch auf den ersten Blick unvereinbar – im Schulterschluss agieren, um ihre jeweilige hierarchische Macht- und Wohlstandsverteilung zu konsolidieren.
Das klingt vertraut. Es ist wohl kein Zufall, dass Agnieszka Holland diese historische Geschichte ausgerechnet heute erzählt.
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Sehr geehrte Frau Rieger,
bei aller Sympathie für Ihren feministischen
Ansatz, finde ich Ihre Rezension nicht nur
verzerrend, sondern geradezu anti-feministisch.
Sie erwähnen mit keinem Wort, dass es sich bei
„Mr.Jones“ um den sehr seltenen Fall eines
historischen Epos handelt, dass von einer
Frau inszeniert und von einer Frau geschrieben
und produziert wurde. Wissen Sie, wie
selten es ist, dass Frauen als zentrale
künstlerische Gestalter das nötige Geld
bekommen um einen Film dieser Größenordnung
zu machen ? Es passiert so gut wie nie.
Sowohl Frau Holland, als auch Frau Chalupa haben
einen persönlichen Bezug zum Thema ihres Films.
Sie haben die kluge Wahl getroffen Gareth Jones
in den Mittelpunkt zu stellen, weil er eine
Schlüsselfigur ist zum Verständnis der Ereignisse.
Warum hätten sie – zusätzlich zu der von Vanessa
Kirby gut gespielten Nebenrolle – noch überflüssige
Frauenfiguren hinzuerfinden sollen um Ihre
imaginäre ‚Film-Frauenquote‘ zu erfüllen ?
Was mich auch ärgert an Ihrer Rezension ist
Ihr Unverständnis der Rahmenhandlung mit
George Orwell mehr abzugewinnen als, dass es
sich ja nur um einen weiteren ‚Mann‘ handele.
Orwell war mehr als nur ein Männchen, richtig?
Tatsächlich war es klug Orwell in die Handlung
einzubeziehen, denn an seinem Beispiel konnten
die Filmemacherinnen illustrieren, dass Gareth
Jones‘ journalistische Arbeit letztlich nicht
umsonst war: Die Wahrheit zeigte Wirkung darin,
dass selbst Sympathisanten der Kommunisten wie
Orwell ihre Illusionen langsam verloren.
Hätte man dies nicht in die Handlung eingefügt,
was hätte Gareth Jones‘ Handeln denn letztlich
bewirkt ? Gar nichts. Den Holodomor hat es
jedenfalls nicht gestoppt. Holland und Chalupa
zeigen aber, dass fakten-basierte und wahrhaftige
Berichte die beste Medizin gegen ideologische
Verblendung sind. Das ist die zentrale Aussage.
„Mr. Jones“ ist ein wichtiger Film, weil es
der erste ernsthafte Versuch ist im populären
Kino dieses dunkle Kapitel der Geschichte
aufzuarbeiten. Es ist überhaupt der erste
Film über Gareth Jones. Dass Frauen diese
große Leistung erbracht haben, sollte ein
Grund zum Stolz für jede Feministin sein,
nicht eine Grundlage um rumzumäkeln, weil
Ihnen nicht genug Frauen auf der Leinwand
zu sein scheinen. In gewissem Sinne ist
Ihr Denken ideologisch.
Ihre seltsame Schwerpunkt-Setzung zeigt,
dass manchmal die Hüterinnenn des Feminismus
ihre eigenen Feinde sein können. Die Filmlöwin
frisst ihre eigenen Kinder ?
„Mr. Jones“ ist ein herausragender Film,
nicht nur für Frauen im Film, sondern für
historische Repräsentation an sich.
Sehr geehrte Frau Finke,
herzlichen Dank für Ihren ausführlichen Kommentar und den wichtigen Verweis auf die seltene Gelegenheit weiblicher Filmemacherinnen, sich mit großem Budget großen historischen Stoffen anzunehmen. Leider verstehe ich insgesamt nicht, wogegen sie sich hier positionieren. Ich habe den Film ja weder qualitativ noch inhaltlich abgewertet, sondern lediglich auf Details verwiesen oder Fragen formuliert. Inwiefern ich damit „meine eigenen Kinder“ fressen soll, ist mir wirklich schleierhaft. Würde ich als Filmkritikerin allen Regisseurinnen nur auf Grund ihres Geschlechts mit Vorschusslorbeeren begegnen, würde ich nicht nur mich selbst unglaubwürdig machen, sondern auch diesen Künstlerinnen mit weniger fachlichem Respekt begegnen als ihren männlichen* Kollegen. Es muss auch als Feministin möglich sein, Filme von Frauen* kritisch zu betrachten. Alles andere ist PR und nicht Thema dieser Webseite.