Berlinale 2019: Kinder

von Sophie Charlotte Rieger

Das filmische Eintauchen in die Welt der Kinder ist eine große Kunst. Filmemacher_innen müssen dafür im tatsächlichen wie auch im übertragenen Sinne auf Augenhöhe mit ihren Protagonist_innen gehen. Zwar haben wir alle Kindheit erlebt, doch ist es gar nicht so einfach, zu dem Erleben dieses Alters zurückzukehren.

Dokumentarfilmerin Nina Wesemann versucht es trotzdem und wählt dafür die nüchternste dokumentarische Form: die Beobachtung. Ein Jahr lang begleitet sie vier Berliner Kinder durch den Alltag, beim Spielen mit Freund_innen, im Kreise der Geschwister, auf der Straße, in der Schule und zu Hause. Kein Kommentar, nur eine latent melancholische Musikuntermalung begleitet die Bilder und vermittelt ein Gefühl von Sehnsucht nach eben jener Lebensstufe. Die Perspektive der Beobachterin, das bleibt spürbar, ist die einer Erwachsenen.

© Nina Wesemann

Dabei sind große Menschen aus diesem Film schon allein deshalb meist ausgeschlossen, weil sie aus dem Format herausragen. Wesemann dreht in 4:3, die Kamera ist auf Blickhöhe der Kinder, den Protagonist_innen stets sehr nah, so dass die Umwelt in unscharf in den Hintergrund tritt. Und somit auch die Erwachsenen. Nicht einmal Eltern treten auf. Kinder beschränkt sich ganz und gar auf das Universum der vier kleinen Menschen im Fokus des Films: Emine, Marie, Christian und Arthur.

So richtig divers mag diese Wahl übrigens nicht anmuten. Emine stammt vermutlich aus einer Familie mit Migrationsgeschichte, doch genau können wir das nicht sagen, denn sie ist die Einzige, die nicht von der Kamera nach Hause begleitet wird. Christian und Arthur wiederum ähneln sich sogar äußerlich so sehr, dass ihre Erzählstränge nicht ohne Weiteres auseinanderzuhalten sind. In einer Stadt wie Berlin, die eine extrem Vielfalt an Lebenswelten bietet, wirkt die Auswahl leider recht einfallslos. Wo ist denn die kulturelle Vielfalt, wo die vielen verschiedenen Lebenswelten zwischen Zehlendorfer Villa und Marzahner Plattenbau? Wo queere Kinder oder junge Menschen mit Behinderungen?

© Nina Wesemann

Zugegeben, durch die eher heterogene Auswahl der Protagonist_innen vermeidet Nina Wesemann auch den Rückgriff auf Stereotypen, wie sie beispielsweise durch eine prekäre Familie aus Marzahn und Bildungsbürger_innen in Dahlem gegeben wären. Dass mir sofort die Unsichtbarkeit von Emines Wohnumfeld auffiel, könnte auch an meinem gesteigerten Interesse daran liegen. Ich gehe automatisch davon aus, dass es sich hierbei um etwas vollkommen Anderes handeln muss als bei den anderen Kindern. Bin ich hier also diejenige mit den unbewussten Vorurteilen?

Für derlei Gedanken ist in Kinder sehr viel Raum, denn abgesehen vom Verstreichen der Jahreszeiten besitzt der Dokumentarfilm keine Narration. Als Zugang bleibt uns als Publikum vor allem die Identifikation, Erinnerungsflashbacks an unsere eigene Kindheit, Wiedererkennungsmomente kindlichen Spiels und Abenteuers. Andere Szenen wiederum, beispielsweise wenn es um Computerspiele geht, scheinen wie aus einem anderen Universum und sorgen damit für so manchen Lacher.

© Nina Wesemann

Überhaupt ist es erstaunlich, welche Authentizität Wesemann hier abzubilden im Stande ist. Die Kamera, so scheint es, ist für die Kinder vollkommen unsichtbar. Niemals wirkt ihr Handeln inszeniert, niemals richten sich die Blicke verstohlen in die Linse, um Aufmerksamkeit auf die eigene Person zu ziehen. Die Regisseurin ist sogar bei kindlichem Unfug der verbotenen Sorte anwesend, beim Zündeln an Silvester beispielsweise, also in Momenten, zu denen Erwachsene gar keinen Zutritt haben dürften. Genauso intim gestalten sich die Moment in Maries Kinderzimmer, wenn sie als Einzelkind mit sich selbst eine Schulstunde inszeniert – zugleich als Lehrerin wie als Schüler_innen.

Eine gewisse Faszination birgt Kinder also durchaus. Dennoch bleiben am Ende offene Fragen: Welche Absicht, welches Ziel versteckt sich hinter diesem Film? Geht es um das unaufgeregte Portrait vierer Kinder zu einem bestimmten Zeitpunkt, vielleicht auch als historisches Zeugnis für kommende Generationen? Oder geht es vielleicht im Gegenteil gerade um die Zeitlosigkeit kindlichen Erlebens? Vor allem aber: Warum läuft dieser extrem ereignisarme Film im Kinderprogramm der Berlinale? Kinder ist in meinen Augen nicht nur eindeutig aus einer erwachsenen Perspektive erzählt, die mit geradezu ethnologischer Neugier von außen in diese Lebenswelt blickt, sondern auch ein Film, der einem erwachsenen Publikum genau diesen Blick anbietet. Für Kinder im Alter der Protagonist_innen aber, und das zeigt uns eigentlich Nina Wesemann mit ihrem Werk selbst am eindrücklichsten, gibt es so viel Spannenderes als diesen Film!

Screenings bei der Berlinale 2019

Sophie Charlotte Rieger
Letzte Artikel von Sophie Charlotte Rieger (Alle anzeigen)