Berlinale 2020: Charlatan

Globuli, Bachblüten, Kräutertees und Akkupunktur – noch immer streitet die Welt über Alternativen zur westlichen Schulmedizin. Dabei haben alle hier exemplarisch genannten Methoden eines gemeinsam: Sie verursachen im Gegensatz zu den Produkten der modernen Pharmaindustrie keine gravierenden Nebenwirkungen. Und doch muss sich Heiler Jan Mikolášek, der angebliche Charlatan in Agnieszka Hollands gleichnamigem Film, gegen eine Mordanklage verteidigen.

Den tschechischen Heilpraktiker hat es tatsächlich gegeben. Jan Mikolášek praktizierte Mitte des 20 Jahrhunderts und diagnostizierte die Krankheiten seiner Patient:innen mittels deren Urinproben – und das mit dem bloßen Auge. Für die Behandlung, so erzählt uns zumindest Hollands Film Charlatan, müssen die Menschen nicht einmal persönlich erscheinen: Eine postalisch zugestellte Urinprobe reicht aus und wird mit Kräutermischungen als Medikation beantwortet. Bis einer dieser vermeintlich harmlosen Tees zwei Menschen das Leben kostet.

Mikolášek mit einem Glasfläschcen, das mit Urin gefüllt ist. Er hält es ins Licht und betrachtet es. Hinter ihm steht Palko und und blickt ihn an.

© Marlene Film Production

Die Verhaftung Mikolášeks (Ivan Trojan) und seines Assistenten František Palko (Juraj Loj) bildet den Rahmen des Bio-Pics, das in der Binnenhandlung den Werdegang des umstrittenen Heilers abbildet, seine zunächst freundschaftlich und schließlich romantische Beziehung zu Palko erzählt und auf moralische Konflikte im Zusammenhang mit den wechselnden politischen Systemen eingeht. An dieser Stelle verschenkt Agnieszka Holland allerdings großes Potential. Die Frage, ob die medizinische Versorgung der Bevölkerung eine Zusammenarbeit mit den Nazis während des Zweiten Weltkriegs rechtfertigt, hätte hier mehr Aufmerksamkeit verdient. Auch die Konflikte mit dem späteren sozialistischen Regime verbleiben in der Andeutung. Jan Mikolášek bezeichnet sich wiederholt als unpolitisch und der Film versäumt es zu hinterfragen, ob es so etwas wie eine unpolitische Zusammenarbeit mit Nazis überhaupt geben könne.

Zudem kann sich Holland bedauerlicher Weise nicht entscheiden, ob sie Mikolášeks als Naturmediziner oder als Wunderheiler erzählen und inszenieren will – eine Ambivalenz, die dem Film einerseits zum Nachteil gereicht, weil er infolgedessen auch zwischen den Genres von erstzunehmendem Bio-Pic und märchenhaftem Rührkino schwankt. Andererseits ist es gerade diese Ambivalenz, die den Helden zu einer interessanten Figur macht. Jan Mikolášek tritt in Hollands Geschichte nicht nur als Heiler, sondern auch als Machtmensch mit destruktiven Zügen auf. Bei einer Kräuterfrau aus seinem Heimatdorf in die Lehre gegangen, entfernt sich Mikolášek sich von deren Vorbild vor allem dadurch, dass er seine medizinischen Dienste gegen Honorar anbietet. „Das trennt Dich von den Menschen“, war damals ihre Warnung. Tatsächlich hat sich der alternative Mediziner durchaus in die Position eines unberührbaren Idols begeben, das im Gegensatz zur einfachen Landbevölkerung ausgesprochen komfortabel lebt. Auch seine zahlreichen Geldspenden an Bedürftige ändern nichts daran, dass sein christlicher Glaube ihm keine wahre Demut gelehrt hat. Und es ist freilich eben jenes Privatvermögen, das schließlich den Machthabern der UdSSR ein Dorn im Auge ist.

Dieses Oszillieren des Helden zwischen Überhöhung und Fehlbarkeit erweist sich schließlich als größte Stärke dieses ansonsten eher durchschnittlichen Films, dem handwerklich nichts vorzuwerfen, allerdings auch kein Lob der Originalität auszusprechen ist. Agnieszka Holland liefert als Regisseurin eine solide Leistung ab und weiß eine interessante Geschichte zu erzählen, nur vermag ihr Film über die biographische Erzählung hinaus leider keine Bedeutung zu entwickeln. Auch ein Brückenschlag in die Gegenwart bleibt aus, der sich über den Komplex Kapitalismus/Pharmaindustrie/Gesundheitssystem eigentlich nahezu aufdrängt. Doch dem Film fehlt es an Mut, in diese Aspekte tiefer einzusteigen, kritischere Fragen aufzuwerfen oder auch eine klare Position gegenüber seiner ethisch-moralischen Themen zu beziehen. So gehört Charlatan wohl leider zu den Filmen, die nicht lange im Gedächtnis bleiben.

Sophie Charlotte Rieger
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