Viennale 2022: Die Highlights des diesjährigen Festivals

Die Viennale 22 fand zwischen dem 20. Oktober und dem 1. November statt. Wie immer präsentierte das Festival der Festivals die besten Highlights der Festivalsaison während fast zwei Wochen, in denen das Wiener Publikum Filme aus der ganzen Welt genießen konnte. Mit einer großen Auswahl an Filmen, die von Frauen und LGBTQI+ Menschen gemacht wurden, war auch FILMLÖWIN vor Ort, um einige der diesjährigen Highlights zu besprechen.___STEADY_PAYWALL___

Vera (2022, R: Tizza Covi, Rainer Frimmel)

©Viennale

Die Viennale startete mit der miserablisten Geschichte von Vera, gespielt von Vera Gemma, der Tochter des Schauspielers Giuliano Gemma. In den 115 Minuten Laufzeit des Films wird Vera gedemütigt, zurückgewiesen, belogen, bestohlen, beschimpft und als eine Art Märtyrerinnenfigur verhaftet, die nun für das Verbrechen büßen muss, einen sehr berüchtigten Vater gehabt zu haben. Sie wird auch geschlagen, zwar nicht brutal, aber im Rahmen eines Plans, um das Leben ihres Peinigers zu retten. In der Tat gibt es viele Dinge, die sie kaum vermeidet und das alles noch reserviert für die letzten 30 Minuten. Tatsächlich beginnt die Erzählung mit einigem an Verspieltheit und insinuiert, ganz provokant, dass unsere Hauptfigur interessanter ist als das, was wir zuerst denken. Solche Verspieltheit wird dann unterbrochen, um einem miserablen Pessimismus Platzt zu machen, der die Menschen nur als potenzielle Bedrohung sieht. Jeder Mensch, der in Kontakt mit Vera tritt, scheinen fähig zu sein, grausame Taten zu begehren und andere auszunutzen. Die vom Film vertretene Weltanschauung ist eine ganz plumpe Art, Arthousekino zu machen, wo man nicht auf eine bestimmte Ästhetik zurückgreift sondern Effekte, die geklaut von anderen, noch gelungeneren Filmen sind, um Affekte zu generieren, ja, sie zu „schaffen.“ Dabei wird die weibliche Hauptfigur auf jede Art missbehandelt, die die Erzählung will. Die autofiktionale Erzählung, die die reale Persönlichkeit Veras mit moralischen Erzählungen darüber vermischt, wie sich die Gesellschaft angesichts vermeintlicher Privilegien verhält, scheint etwas im Sinn zu haben, nämlich die Beziehungen zwischen Vätern und Töchtern und die Art und Weise, wie sich die Gesellschaft im Zusammenhang mit Geld verhält (es stellt sich heraus, dass die Menschen sich selbst korrumpieren!), kann aber nur halbgare Gedanken und Strafen für ihre Protagonistin erreichen. Durch die Verwendung des rohen Realismus einer Handkamera und einer Fotografie, die die rauen Stellen in den Gesichtern ihrer Protagonist:innen hervorhebt ((aber nur so lange, bis er sich daran erinnert, dass er zu einer anderen Technik wechseln sollte, um seine Figuren zu verspotten und zu verhöhnen), strebt Vera weniger nach einer Erfassung der Realität als nach einer Vergrößerung ihrer pessimistischsten Impulse. Auf diese Weise bestraft er nicht nur seine Protagonistin, sondern auch sein Publikum.

My Imaginary Country (2022, R: Patricio Guzmán)

©Viennale

Patricio Guzmáns (Nostalgia for the Light, Battle of Chile, Salvador Allende) Film über das, was er eine Revolution in Chile im Jahr 2019 nennt, ist ein tränenreicher, hoffnungsvoller Blick auf die Ereignisse, die zu großen Revolten führten, die Gleichheit bezüglich Gesundheit, Bildung und Sex forderten. Hoffnung ist kein Verbrechen, und der Glaube, dass diese Ereignisse einen dauerhaften Wandel herbeiführen könnten, durchdringt jeden Teil von My Imaginary Country. Es ist jedoch fraglich, an wen sich der Dokumentarfilm richtet, denn er wirkt wie eine Produktion für ein europäisches Publikum, das so gut wie nichts über die gesellschaftlichen Verhältnisse im heutigen Chile weiß. Der Rahmen ist zwar reich an Bildern und Gefühlen der Revolte, bleibt aber oberflächlich und zeigt nur eine Seite der Geschichte, die sich mit der Ablehnung der Verfassungsänderung als viel komplexer herausgestellt hat. Die Absicht dieser Kurzkritik ist keineswegs, Guzmáns Werk wegen seines Wunsches nach einer Revolution zu kritisieren, aber der Mangel an Details lässt es so erscheinen, als sei die Revolte dem Autor zu Kopf gestiegen. Das Ergebnis ist eine verfrühte Feier und das Gefühl, dass der Film mehr Aspekte eines komplexen Bildes hätte beleuchten können. Das Fehlen von Tiefgang kaschiert Fehler.

Aftersun (2022, R: Charlotte Wells)

©Viennale

Eine Vater-Tochter-Beziehung steht im Mittelpunkt von Charlotte Wells‘ Debütfilm Aftersun. Das zentrale Paar des Films, Sophie und Calum, das von Paul Mescal und Frankie Corio mit feiner Komplexität gespielt wird, wird von Wells‘ sinnlicher Kamera pflichtbewusst und lyrisch beobachtet. Stets auf der Suche nach den Mikro-Emotionen und den Orten, an denen die Menschen aufhören und ihre Umgebung beginnt, erreicht Wells‘ gelungener erster Film einen wunderbar ruhigen Ton, der die komplizierten Gefühle andeutet, die die erwachsene Sophie durchlebt, während sie die Aufnahmen eines Türkeiurlaubs noch einmal ansieht. Für einen Film, den man treffend als „minor“ bezeichnen könnte der Film untersucht die Zeit, die Vater und Tochter zusammen verbrachten, bevor sie kurz darauf getrennte Wege gingen , ist Aftersun“ in seiner Form ehrgeizig. Der Film schafft einen ‘archivarischen’ Raum, in dem sich die erwachsene Sophie ihren Weg durch die vergangene Reise bahnt und sich dem annähert, was ihr Vater getan und durchgemacht hat. Wells’ quasi autobiografische filmische Erzählung schafft hier mehr, als das Selbstverständnis dieser Menschen zu umreißen, sie malt sie mit Details und macht darauf aufmerksam, dass die Funktionsweise der Erinnerung mehr mit Objekten und kurzen Eindrücken und weniger mit großen Momenten zu tun hat. Es sind die kleinen Dinge, die uns für immer in Erinnerung bleiben.

Women Talking (2022, R: Sarah Polley)

Michael Gibson © 2022 Orion Releasing LLC. All Rights Reserved.

(TW: die folgende Rezension enthält Hinweise auf sexuellen Missbrauch)

Es ist schwierig, über Women Talking für FILMLÖWIN zu schreiben, ohne einen Ton großer Enttäuschung angesichts dessen, was tatsächlich auf der Leinwand gezeigt wurde, anklingen zu lassen. Eine große Besetzung Rooney Mara, Claire Foy, Jessie Buckley, Ben Whishaw, Frances McDormand, Judith Ivey, Sheila McCarthy und viele mehr verpuffen in Sarah Polleys Versuch, einen Oscar aus ihnen herauszuholen. Ganz zu schweigen von den verschiedenen Kategorien, die ein solcher Film anstrebt: Die Hauptidee des Films, dass eine Gruppe von Frauen, die wiederholt vergewaltigt wurden, sich entscheiden muss, ob sie gehen, bleiben und kämpfen oder den Menschen, die sie missbraucht haben, vergeben will, wird völlig in Plattitüden, Dialogzeilen aus dem ersten Jahr des Drehbuchstudiums und einem Schauspielkonzept vergeudet, das sich damit begnügt, vor der Kamera zu weinen und Zeilen zu verkünden, und zwar sehr auffällig.

Polleys Bildgestaltung ist so sehr damit beschäftigt, die Gesichter der Frauen und ihre schlecht geschriebenen Aussagen in Szene zu setzen, dass sie vergisst, dass es sich um ein visuelles Medium handelt. Die Entscheidung für die Farbpalette unterdrückt jede Art von Komplexität und verleiht ihnen durchweg einen tristen Ton. Sie soll die schwierigen Lebensbedingungen, denen diese Frauen ausgesetzt sind, symbolisieren, trägt aber nichts zu den Szenen bei, sondern zeigt nur, wie diese Art von Mitteln überstrapaziert werden kann. Das Thema und die damit verbundenen Probleme verdienen es, diskutiert zu werden, aber sie warten auf einen würdigeren Film als diesen, dessen Ambitionen, relevante Themen zu diskutieren, auf unproduktive Weise mit der Religion verwechselt werden. Die Notlage dieser Frauen verdient in der Tat Sympathie und mehr Relevanz in den zeitgenössischen Filmdiskussionen, die so sehr in Autoren und ein reaktionäres Hollywood-System verliebt sind, aber die Chance wird verpasst, breitere Themen in einem christlichen, zentristischen, aufgeblähten Film anzusprechen, der nicht auf das Herz, sondern auf Auszeichnungen abzielt.

Falcon Lake (2022, R: Charlotte Le Bon)

©Viennale

Viele Coming of Age-Geschichten versuchen, sich zu viel vorzunehmen, sei es die Geschichte eines Kindes und seiner:ihrer Familie, die Geschichte des Kindes und seiner:ihrer Freund:innen oder die Geschichte der Kinder und einer ganzen Gesellschaft, viele dieser Filme versuchen, viel zu viel zu erreichen, und lassen dabei das Hauptaugenmerk, das Kind, auf der Strecke. Charlotte Le Bons beeindruckendes Debüt konzentriert sich über weite Segmente nur auf Bastien (Joseph Engel), bevor er Chloé (Sara Montpetit) kennenlernt. Ihre Beziehung, ihre Höhen und Tiefen und ihre sexuelle Entwicklung werden zum Hauptthema des Films, den Le Bon mit überraschendem Blick für Details und mit der Geduld angeht, die jede respektvolle Begegnung mit diesem heiklen Alter kennzeichnet. Die üblichen Tropen des Erwachsenwerdens sind da: sexuelle Entwicklung, Desillusionierung, Eifersucht, soziale Begegnungen, die schief gehen. Le Bon kann es sich jedoch nicht verkneifen, ein Element, das bisher nur als Mittel zur Stimmungsbeschwörung eingesetzt wurde, als Handlungselement zu verwenden. Mehr zu sagen wäre ein Spoiler. Der daraus resultierende Film schmälert nicht das eindringliche, ruhige und zurückhaltende Verständnis des Teenagerlebens, aber es stört ein wenig, indem es eine unnötige Wendung und Enthüllung hinzufügt, wo es in Wirklichkeit durch einen ruhigen Blick schon so viele andere zu würdigen gab.

Human Flowers of Flesh (2022, R: Helena Wittmann)

©Viennale

Was macht einen Film aus? Helena Wittman’s Teilantwort lautet, den Film als historisches Objekt zu verstehen, das intertextuell verstanden wird, in Bezug auf andere Filme und Themen. Allerdings wäre dies nichts ohne ein Verständnis dafür, was Filme hauptsächlich machen können: Änderungen und Prozesse zu registrieren. Human Flowers of Flesh ist vor allem ein Film über den Prozess, über die Suche. Die Schwierigkeit, Filme wie den, den Wittman geschaffen hat, zu beschreiben, ist offensichtlich. Sie klingen wie dünn gezeichnete Objekte, die mehr durch ihre Betrachtung als durch ihre Rekapitulation gewinnen. Ida (Angeliki Papoulia) hat eine fünfköpfige Crew auf einer Segelyacht rund um Marseille. Wir sehen, wie sie arbeiten und leben, ohne groß einzugreifen. ‘Klinisch’ wäre eine passende Bezeichnung, obwohl das Wort eine Kälte ausstrahlt, die in Wittmans Film nicht vorhanden ist. Die Verfahrensweise spricht für seine Geduld, die Aufnahmen folgen einem ‘narrativen’ Drive, der das Gefühl der Vorwärtsbewegung vermittelt, obwohl selbst die Vorwärtsbewegung bei den vielen Aufnahmen auf dem Meer, wo sich die Zeit ausdehnt und in sich selbst bricht, in Frage gestellt wird. In diesem Sinne hat Wittman Elemente aufgegriffen, die gemeinhin mit der Arbeit und dem Leben auf See assoziiert werden, und einen Film geschaffen, der der Erfahrung eines Besatzungsmitglieds am nächsten kommt. Der Film greift politische Diskurse um die französische Fremdenlegion auf, versteht sich aber nur als peripherer Beobachter solcher Phänomene. Ganz zu schweigen davon, dass die letzten Minuten den Film mit einem der berühmtesten Arthouse-Filme der letzten Jahrzehnte in Verbindung bringen. Human Flowers of Flesh ist ein ehrgeiziger Film, der sich als unambitioniert tarnt. Seine bemerkenswerte Qualität besteht darin, eine prozessuale Ästhetik zu schaffen, ohne alles zu verraten, was er im Kopf hat. Seine Geheimnisse sind seine besten Elemente.

Geographies of Solitude (2022, R: Jacquelyn Mills)

©Viennale

Apropos Geheimnisse: Jacquelyn Mills‚ Debütfilm hat viele. Aus den ersten 15 Minuten eines Films lässt sich viel herauslesen. Ob es sich um einen kontemplativen Film, ein erzählerisches Werk, einen Dokumentarfilm, einen Film mit viel Talking Heads oder etwas anderes handelt. Hier können wir  „etwas anderes“ ankreuzen, denn erst sehr spät deckt Geographies of Solitude seine Karten auf und lässt den Zuschauer:innen an einer Art lokal-globalen Bewegung teilhaben, die die Hauptfigur in Verbindung mit größeren, kopflastigeren Themen bringt. Viel mehr zu sagen, wäre zu viel des Guten. Was zählt, ist Mills‚ persönlicher und feinfühliger Blick auf ihre Protagonistin, Zoe Lucas, eine Naturforscherin, die seit mehr als 40 Jahren auf Sable Island lebt. Ein geduldiger Blick, der Lucas‘ Leben einen Platz auf der Leinwand einräumt, ohne ihren Körper über weite Strecken des Films zu zeigen. Das Verdienst des Films besteht darin, dass er außer Lucas‘ Erzählung und den Aufnahmen ihrer Arbeit und ihrer Vorträge auf Sable Island keinen weiteren Kontext benötigt. Die kompakte Welt, die Mills erschafft, ist nicht nur ihrem Thema geschuldet, sondern auch der Berücksichtigung des Lebensraums, den sie filmt. Viele Filme streben nach der Art von Intimität, die Mills durch ihre avantgardistischen Techniken und ihr Gespür für den Ort mühelos heraufbeschwört. Am Ende hat sich eine Freundschaft gebildet, und der Platz eines einsamen Menschen in der Welt ist erhellt worden; ihre Taten haben über die Insel hinaus und in die Menschheit selbst hinein gewirkt.

Tres Tigres Tristes (2022, R: Gustavo Vinagre)

©Viennale

Einer der beeindruckendsten Filme des Festivals war Gustavo Vinagres Tres Tigres Tristes, eine brasilianische queere Geschichte mit antikapitalistischer Tendenz, die die drei Protagonist:innen in Brasilien während einer nicht näher bezeichneten globalen Pandemie ansiedelt, die das Gedächtnis betrifft. Falls das bekannt vorkommt: Auch die Protagonist:innen müssen Masken tragen, Abstand halten und sind dazu verdrängt, endlos auf Dinge zu warten, die nie kommen, und in Jobs festzusitzen, die dank des Computers machbar sind. Vinagre hat keine Agenda, außer jeder Agenda, und sein Film ist voll von Vignetten, Höhenflügen, Episoden der Verfremdung, Traumsequenzen und einer Menge schrägen Humors. An einer Stelle sehen sich ein Kind und seine Mutter ein Graffiti an, auf dem ein schwules Paar abgebildet ist, das Kind kotzt, die Mutter schreit, dass er das nicht sehen sollte, und als Nächstes verkündet das Kind, dass es schwul ist. Vinagre hat die Arbeit der Kritik in ihrem interessantesten Register, dem des Humors, eingesetzt und ein Stück ausgeheckt, das sich in allen Belangen wie ein Chaos anfühlt. Das ist beabsichtigt. Vinagre versteht, dass die globale Situation keinen Sinn ergibt und dass die Verluste, die wir derzeit erleben, nur durch TikTok-Videos, Drogen und das zeitlose Versprechen von befreiendem Sex aufgefangen werden, die in seinem Film in einem beeindruckenden Versuch, eine Antwort auf alles zu finden, durchbrechen. Der Film funktioniert nicht so sehr, als dass er in sich zusammenfällt, eine andere Sache findet und sich dem Thema für 5 Minuten widmet, bevor er wieder in den Köpfen seiner Protagonist:innen verschwindet. Die Figuren des Films sind weniger Charaktere als vielmehr Sprecher:innen der queeren Jugend, und ihre Begegnungen mit anderen machen einen Großteil der thematischen Stoßkraft des Films aus. Nicht alles funktioniert, aber die Botschaften sind interessant genug und werden mit einer so konstanten Rate an Nachlässigkeit vermittelt, dass man die Energie des Films als Nebenprodukt einer rechtschaffenen Wut auf unser gegenwärtiges System verstehen sollte.

Return to Seoul (2022, R: Davy Chou)

©Viennale

In dem dritten Film des französisch-kambodschanischen Filmemachers Davy Chou spielt Park Ji-min Freddie, eine Südkoreanerin, die vor 25 Jahren von einem französischen Paar zur Adoption freigegeben wurde. Jetzt ist sie alt und kehrt aus einer Laune heraus zurück, um die Vergangenheit zu bewältigen, und zwar auf eine Weise, die sowohl chaotisch als auch unverständlich, taktlos und kunstlos erscheint. Dies ist jedoch nur ein Vorwand für einen Dialog mit der Zeit und die Verarbeitung von Gefühlen, die vielleicht nie eine Versöhnung finden. Auf dem Weg dorthin verleiht Chou dem Film Bilder, die von anderen Regisseur:innen inspiriert sind, vor allem von Hou Hsiao Hsien, aber die Thematik erlaubt es Chou, seine eigene interessante Stimme zu finden. Durch seine Kameraführung, den Einsatz von Farben und den präzisen Schnitt kann er die komplexen Emotionen seiner Figur in verschiedenen Schattierungen zeigen. Indem er in einen Dialog mit der Zeit und den Folgen längst vergangener Handlungen tritt, verfolgt der Regisseur so etwas wie die Folgen einer Erbsünde und wie diese Folgen von der Tochter zu bewältigen sind. Was bei Freddie wie ausgeprägte manische Episoden wirkt, wird nicht als solche erklärt, sondern als verständliche Energieausbrüche angesichts der Umstände verstanden. Indem er sie nicht psychologisiert, d. h. Freddies Reaktionen nicht mit Diagnosen wegerklärt, sondern sie als normale, wenn auch manische und depressive Handlungen eines Geistes im Konflikt annimmt, respektiert Chou ihren Charakter und gibt ihren Gefühlen Raum, in unvorhersehbare Richtungen zu schwingen. Freddie stolpert durch die Hilfe netter Menschen zu ihren „echten“ Eltern, zu denen sie eine Nicht-Beziehung aufbaut: sie sprechen in anderen Sprachen und verstehen die Stimmungen oder Gesten des anderen nicht wirklich; ihre Unfähigkeit, sich mit ihnen zu versöhnen, geht sogar so weit, dass sie keine Apps benutzt, um mit ihnen zu sprechen. Diese und andere Gesten eines tiefgründigen Filmemachens erlauben mir zu sagen: der Film ging mir zu nahe, und Chous Mischung aus geduldigem Verständnis für seine Figur sowie für den Lauf der Zeit und wie sie unsere ersten Reaktionen färbt, war einer der Höhepunkte des Festivals. Ich kann jedoch nicht mit gutem Gewissen eine Rezension über meine eigenen, schmerzlich persönlichen Gefühle hinaus schreiben. Diese:r Autor:in hat 117 Minuten lang geweint.

Wolf and Dog (2022, R: Cláudia Varejão)

©Viennale

Als spiritueller Begleiter von Tres Tristes Tigres porträtiert Wolf and Dog, der vierte Film von Cláudia Varejão, das Leben von Ana und Luis, die auf der Insel Sāo Miguel leben, einem sehr religiösen Ort, dessen Ambiente die Kulisse für ihr Leben als queere Menschen bildet. Im Gegensatz zu Vinagres Film befasst sich Varejāo nicht mit der Pandemie, sondern übt eine lokalisierte Kritik an den Strukturen, die unsere Welt immer noch plagen und queeren Jugendlichen keine andere Wahl lassen, als sie zu verlassen. Dabei findet sie lyrische Momente inmitten schwieriger Zeiten, Freunde und enge Familienangehörige spenden den Jugendlichen den wenigen Trost, den sie finden können. Wolf and Dog kokettiert mit Verspieltheit, ist aber zu sehr auf seine Figuren als Menschen und nicht als Sprachrohr fixiert. In diesen Momenten findet Varejāo jedoch eindringliche Bilder von Sehnsucht, Verlangen und Gemeinschaft in der Gemeinschaft. Wie die Hauptdarstellerin Ana Cabral hinterher verriet, hatte niemand in der Produktion jemals zuvor geschauspielert, bevor sie für den Film gecastet wurden. Eine solche Herangehensweise ist schwer zu bewerkstelligen, aber Varejāo ist nicht wirklich daran interessiert, dass ihre Figuren emotionale Reden halten, sondern vielmehr daran, dass sie ihre Körper als Schilde und Schwerter gegen eine Welt einsetzen, die in jedem von ihnen eine Gefahr sieht.

Cette Maison (2022, R: Miryam Charles)

©Viennale

Miryam Charles‚ Arbeit über Trauer und Erinnerung in Cette Maison war der letzte Film, den ich bei der diesjährigen Viennale gesehen habe. Der Film besteht zumeist aus Kurzfilmen, so dass ein Übergang verstanden und berücksichtigt werden muss. Cette Maison arbeitet mit Trauer und dem Archiv als einem Grenzraum des Dialogs, mit der verstorbenen Cousine, die erhängt in ihrem Zimmer gefunden wurde, sowie mit der Familie im Allgemeinen. Die haitianische Identität verpackt alles in einer abschätzenden Art und Weise, die dennoch das Gefühl von Abschnitten vermittelt, die durch ein loses, essayistisches Schema verbunden sind. Charles verwendet fabrizierte Kulissen, die an einen konkreten Erinnerungsraum erinnern, in dem Diskussionen geführt werden, ohne dass ein Ende in Sicht ist. Das ist auch der Punkt: Trauer und die Erinnerung an einen Verlust verschwinden nicht wirklich mit der Zeit oder mit verschiedenen Begegnungen mit unterschiedlichen Sichtweisen zu diesem Thema. Ein Stück Erinnerung stellt das Gefühl nicht automatisch wieder her. Cette Maison choreografiert jedoch Gefühle auf bekenntnishafte Art und Weise, indem er in Dialogen und Voiceover Ideen wiederholt, die sonst in Bildern dargestellt werden. Das Ergebnis fühlt sich an wie eine Arbeit über die Erinnerung, die ein wenig in die Länge gezogen wurde und der es ein wenig an Selbstvertrauen fehlt, um das Medium für sich selbst sprechen zu lassen. Es besteht jedoch kein Zweifel an Charles‚ Fähigkeit zur visuellen Sprache, da ihr Film den immer wiederkehrenden Ort des Traumas, an dem sich Bedauern und Erinnerung verflechten, perfekt einfängt.

Giancarlo M. Sandoval
Letzte Artikel von Giancarlo M. Sandoval (Alle anzeigen)