Proxima – Die Astronautin

Phasen  bahnbrechenden menschlichen und technologischen Fortschritts sind spannende Themen für fiktive Bearbeitungen und als utopische und dystopische Entwürfe, denn sie öffnen die Möglichkeiten neuer Perspektiven, neuer Fragestellungen und neuer Gesellschaftsvorstellungen. Gedanken daran, was die Menschheit erreichen, aber auch wie sie sich ruinieren kann, lassen überwältigende und ausschweifende Geschichten zu, die in ihrem Umfang grenzenlos sein können. Deswegen verwundert es kaum, dass in der Science Fiction, beim wortwörtlichen Griff nach den Sternen, die kleinen Nuancen zwischenmenschlichen Zusammenlebens, die einzelnen Schicksale und Gefühlswelten, oft zu kurz kommen. In den Entwürfen naher und ferner Zukunftsszenarien, scheint sich die Menschheit gerne von ihren Alltagsproblemen loszusagen, um sich stattdessen lieber großen philosophischen Fragen oder spektakulären Visionen zu widmen.

Die französische Regisseurin Alice Winocour bemüht sich in ihrem neuen Film Proxima – Die Astronautin darum, eben dies zu vermeiden und erzählt stattdessen lieber eine mikrokosmische Geschichte rund um beruflichen Druck und familiärer Herausforderungen. Die Weltraumingenieurin Sarah (Eva Green) steht kurz davor, sich ihren Traum zu erfüllen: als Astronautin bei der Weltraummission Proxima mitzufliegen. Die Mission dient der Vorbereitung des ersten menschlichen Fluges zum Mars und erfährt starkes öffentliches Interesse. Doch Sarahs Abreise ist nicht unkompliziert, denn sie muss dafür ihre junge Tochter Stella (Zélie Boulant-Lemesle) bei ihrem Ex-Partner Thomas (Lars Eidinger) zurücklassen und sieht sich in ihrer neuen Crew zunächst mit sexistischer Ablehnung und Vorurteilen konfrontiert. Der Film widmet sich den direkten Vorbereitungen auf den Flug, eine Zeit in der Sarah, mit der Enttäuschung ihrer Tochter und gleichzeitig mit den harten körperlichen und mentalen Anforderungen umgehen muss. 

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© Koch Films

Proxima legt einen klaren und nüchternen Fokus auf die Frage,welche Probleme Menschen – und vor allem Frauen – bewältigen müssen, deren Überhöhung in der Fiktion es sonst kaum zulässt, sie als Figuren zu sehen, die mit sich selbst und ihren alltäglichen Umständen ringen. Gerade Astronaut:innen wird seit jeher angedichtet, mutig und unerschrocken an der Speerspitze des zivilisatorischen Fortschritts zu gehen. Um zu zeigen, dass diese Vorstellungen einer realistischen Überprüfung nicht standhalten, schlägt die Regisseurin einen dezidiert authentischen Ton an, der die kurzweiligen und kritischen Momente in Sarahs Vorbereitungsalltag besonders hervorhebt und erfahrbar  macht. Wenn beispielsweise ihr Captain öffentlich von ihr erwartet, gut kochen zu können, da sie ja eine französische Frau sei oder ihr nahegelegt wird, ein einfacheres Trainingsprogramm als die männlichen Kollegen zu absolvieren. Oder wenn ihre Tochter Stella sich bei ihrem Besuch in der Vorbereitungsanlage so sehr langweilt, dass sie nicht nur Sarah bei ihrer Arbeit stört, sondern auch nachts davon läuft. Der Film schafft es durch solche Beiläufigkeiten perfekt die Anspannung zu transportieren, an der Sarah in ihrer Doppelrolle als Astronautin – als nationale Heldin, von der viel für die Menschheit verlangt wird – und als Mutter – von der nicht weniger viel verlangt wird, doch mit einer in Frage zu stellenden Selbstverständlichkeit – zu zerbrechen droht. Und durch diese Beiläufigkeiten wird auch deutlich, worum es Proxima geht: nicht um eine Geschichte des menschlichen Könnens, sondern um einen Fingerzeig auf unfaire Doppelstandards und die Zerschlagung des Bilds der ‘perfekten Mutter’.

© Koch Films

Sarahs hält ihre Gedanken in Briefen an ihre Tochter fest, die als Voice-Over die Bilder an vielen Stellen begleiten. Dieser direkte Einblick in ihr Innenleben verrät viel – vor allem in dem, was sie nicht schreibt. In ihrem Bemühen Stella in dieser schweren Phase dennoch eine gute Mutter zu sein, schiebt sie all ihre Kämpfe beiseite. Für Stella errichtet sie eine stabile Fassade, die ihr alles abverlangt. Für das Publikum gilt es diese Fassade zu durchschauen, um in Eva Greens intensivem und körperlichen Schauspiel die Anzeichen dessen zu erkennen, was uns in unserem Alltag an jeder Ecke begegnet: mütterliche Doppelbelastung, die kaum gesellschaftliche Anerkennung erfährt, sondern in den neoliberalen Strukturen unseres Lebens als Stützpfeiler angelegt ist. Proxima enthält in seinem Kern keine neuen Erkenntnisse für ein bereits sensibiliertes Publikum, aber schafft es vorbildlich diese Themen in ein Setting zu verflechten, das die Allgegenwärtigkeit von derartigen Schicksalen deutlich macht.

Sarahs und Stellas Mutter-Tochter-Beziehung nachzuvollziehen ist rührend und in Teilen schmerzhaft. Die emotionale Arbeit, die Sarah abverlangt wird, überträgt sich unvermittelt auf das Publikum, das zwar in Proxima keine spannende und ereignisreiche Geschichte vorfindet, aber mehr als genug involviert wird – durch das Miterleben eines Schicksals, das gleichzeitig vielen bekannt und doch so fern sein dürfte, durch die authentische und liebevolle Filmsprache und durch großartiges Schauspiel. Alice Winocour beweist in ihrem dritten Langfilm nach Augustine (2012) und Disorder (2015), dass sie ein fabelhaftes Händchen für emotionale Inszenierung und den Fingerzeig auf die Verhandlung von strukturellen Problemen anhand von einzelnen aufbereiteten Schicksalen hat.

Kinostart: 24.06.2021

 

Sophie Brakemeier