Gefangen im Netz
ACHTUNG: Der folgende Text enthält Trigger zu sexuellem Missbrauch.
Ein Drittel aller tschechischen Kinder haben online Missbrauch erfahren – durch Erwachsene, die sich vor ihnen entblößt, vor ihnen masturbiert haben, die sie dazu genötigt haben, sich in Videotelefonaten auszuziehen, die Nacktbilder angefordert und die Kinder damit erpresst haben. Ein Drittel … das behauptet zumindest eine der Statistiken, die den Dokumentarfilm Gefangen im Netz des Regieteams Barbora Chalupová und Vít Klusák und in das schockierende und gleichzeitig vielschichtige Thema des Films einleiten: Kindesmissbrauch im Internet. Natürlich lässt sich die Statistik auf die Schnelle nicht überprüfen – die Quelle wird nicht genannt –, doch selbst, wenn es kein Drittel wäre, sondern nur ein Viertel, ein Fünftel, ein Sechstel; es ist eine erschreckend hohe Zahl. Ganz unpopulistisch bewertet ist es ein großes Problem in einer Gesellschaft, deren rasante Digitalisierung dafür gesorgt hat, dass der Zugang zu Online-Welten so niedrigschwellig und selbstverständlich wie möglich ist, während die medienpädagogische Bildung, die verantwortungsbewussten und umsichtigen Umgang mit digitalen Produkten ermöglichen soll, dem Fortschritt dieses Trends nicht gewachsen ist.
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Die Produktion einer Provokation
Das ist also die grobe Ausgangslage, die Barbora Chalupová und Vít Klusák zu diesem Dokumentarfilm, der eher ein dokumentarisches Experiment ist, motiviert hat. In diesem Experiment wollen sie die Vorgänge des Missbrauchs selbst provozieren, beobachten und einordnen. Dafür haben sie drei erwachsene Schauspielerinnen gecastet, deren kindliche Erscheinung es ihnen ermöglicht, authentisch 12-jährige Mädchen zu verkörpern. Für die drei Protagonistinnen wurden daraufhin in einem Studio Kinderzimmer eingerichtet, die für zehn Tage ihre Bühne, ihr Arbeitsort sein sollten. Ihre Aufgabe: Auf Social Media-Plattformen Sexualstraftäter:innen anlocken, mit ihnen chatten, videotelefonieren und in letzter Instanz im echten Leben, im physischen Raum, treffen.
Gefangen im Netz dokumentiert seinen eigenen Produktionsprozess, angefangen mit dem Casting der Schauspielerinnen. Schon hier wird unmissverständlich darauf verwiesen, wie allgegenwärtig missbräuchliches Verhalten an Kindern im Internet in Tschechien sind. 19 der 23 teilnehmenden Schauspielerinnen berichten von eigenen Erfahrungen mit Missbrauch im Internet in ihrer präpubertären Zeit, oder zumindest den Versuchen diesem zu entkommen. Sie berichten von digitalen Übergriffen, Dickpics, Einschüchterung und sexualisierten Grenzüberschreitungen, die Therapien nach sich zogen. Spätestens jetzt, spätestens wenn Barbora Chalupová und Vít Klusák Einzelschicksale mit einbeziehen und individuelle Geschichten erzählen, bringt der Film eine unwiderruflich emotionale Komponente mit ein, die ihm letztendlich zum Verhängnis werden wird. Weiter wird darauf hingewiesen, dass in den Dreh- und Produktionsprozess Psycholog:innen, eine Sexualforscherin, ein Anwalt sowie die Polizei involviert sein werden. Das Regieteam möchte damit sowohl sicherstellen rechtlich auf der sicheren Seite zu sein als auch den Schauspielerinnen bei den potentiell (re)-traumatisierenden Erfahrungen genügend Unterstützung liefern zu können. So wird die Exposition des Films dafür genutzt, die Regeln vorzustellen, die sich die Filmschaffenden für ihr Experiment selbst auferlegt haben. Darunter unter anderem: Die Schauspielerinnen dürfen die Männer nicht auf Eigeninitiative kontaktieren. Sie dürfen kein Flirtverhalten an den Tag legen. Sie dürfen Nacktfotos erst nach mehrmaligem Bitten verschicken.
Das Experiment beginnt und die Ergebnisse lassen nicht lange auf sich warten. Kaum haben die drei Schauspielerinnen Profile für ihre digitalen, jüngeren Ichs angelegt, werden sie mit Nachrichten überschwemmt – 2458 Männer in 10 Tagen, wie der Film später verrät. Das Regieteam ist euphorisch ob dieses erfolgreichen Starts – und das wirkt mehr als befremdlich. Alle Beteiligten werden hier Zeuge von Verhalten, das zwar durch die vorgetäuschte Versuchsanordnung quasi “opferlos” bleibt, aber dennoch intendiert kindesmissbräuchlich ist. Es gibt keinen Grund zur Freude, selbst wenn die zahlreichen Kontaktanfragen ein Beweis dafür sind, dass für Barbora Chalupová und Vít Klusák das Experiment zu glücken scheint. An dieser Stelle drängen sich Fragen auf: Welche primäre Intention haben die Filmschaffenden? Wollen sie aufklären? Wollen sie einen erfolgreichen Film produzieren? Und wie weit wären sie bereit gewesen, dafür zu gehen? Der weitere Verlauf des Films lässt keine versöhnliche Antwort auf diese Fragen zu. Die Stimmung im Produktionsteam scheint zu kippen, als ein Mann beim ersten aufgezeichneten Videotelefonat sogleich ungefragt anfängt vor einer der Schauspielerinnen zu masturbieren. Bestürzung und Ekel beherrschen die Reaktionen und verdrängen die anfängliche Euphorie. An dieser Stelle hätte Gefangen im Netz die Möglichkeit gehabt, seinen eigenen Produktionsprozess zu reflektieren und eine komplexe Verhandlung des Themas anzustoßen – doch was folgt ist noch viel schlimmer.
(Un)verpixelte Bilderflut
Fortan legt der Film eine unangenehme Sensations- und Bildgier an den Tag. Nach und nach werden etliche Videotelefonate und Chatverläufe dokumentiert, in denen explizit sexuelle Handlungen vorgeführt oder gefordert werden, in denen Übergriffe und Erpressung stattfinden. Die Sequenzen und Bilder wiederholen sich bis zum Erbrechen in einer Frequenz, die es nicht gebraucht hätte, um das Ausmaß dieser schockierenden Masse zu verdeutlichen. Wieder und wieder sehen wir in die verpixelten Gesichter der Männer, sehen ihre verpixelten Penisse, hören ihre schmierigen Anmachen und peinlichen Erklärungsversuche, warum ein sexuelles Verhältnis zwischen einem 12-jährigen Mädchen und einem 55-jährigen Mann unproblematisch sei. Für lange Zeit artet Gefangen im Netz in einen unerträglichen Voyeurismus aus, der durch nichts gebrochen wird. Und es ist nicht nur das ‘Was’ und ‘Wie viele’ der Bilder, das zu kritisieren ist, sondern auch das ‘Wie’. Die Montage ästhetisiert die Bilder an unpassenden Stellen: Die Pianovertonung eines Bach-Stückes wird mit der Masturbation eines Mannes parallel geschnitten. Dickpics werden zu einer großen Collage montiert. Dennoch sind die Bilder drastisch und schwer zu ertragen und die Verpixelungen reinste Scheinheiligkeit. Jede Kontur, jede kleinste Bewegung eines gezeigten Gesichts und natürlich auch eines gezeigten Penisses ist deutlich zu erkennen. Barbora Chalupová und Vít Klusák gehen damit zweierlei Risiko ein: Einerseits ein rechtliches, dessen Abwägung hier nicht laienhaft Thema sein kann, und andererseits ein moralisches, denn die Chancen bei einem so emotionalen Thema selbstjustiziable Reaktionen auszulösen, muss mit einberechnet werden. Sie nehmen bewusst in Kauf, dass die verpixelten Täter:innen außerhalb des Films erkannt werden. Die letzte Grenze wird allerdings spätestens dann überschritten, wenn der Film vermeintlich echtes kinderpornografisches Material hinter dieser bewusst spärlichen Verpixelung zeigt.
Dabei wäre es auch anders gegangen: Nach den ersten Schockmomenten hätte Gefangen im Netz auf Aufklärung setzen können, statt auf Skandal, Voyeurismus und unterkomplexe Behandlung. Die wissenschaftliche und professionelle Kompetenz, die durch anwesende Psycholog:innen und Sexualforscherin vor Ort gegeben war, wird nur rudimentär genutzt und erst recht nicht für die Fragen, die der Film offen lässt: Wie lassen sich Kinder im Netz besser schützen? Welche Mechanismen stecken hinter dem Verhalten der Männer? Wie können wir Strukturen schaffen, in denen junge Opfer über Missbrauch reden können, statt vor Scham zu schweigen und somit sichere Räume für Täter schaffen? (Wie) können Täter therapiert werden? Und wie kann es sein, dass wir angesichts dieser Taten so minimale Ansprüche an eine sichere Internetkommunikation haben, dass wir es hinnehmen, wenn der Film einen 20-jährigen Typen, der vorgibt kein sexuelles Interesse an einer 12-Jährigen zu haben, aber dennoch mit ihr videotelefonieren will, als ‘einen der Guten’ stilisiert?
Barbora Chalupová und Vít Klusák haben mit Gefangen im Netz durchaus einen wichtigen Film gemacht. Dank ihm konnte die tschechische Polizei zahlreiche Ermittlungsverfahren aufnehmen und eine verkürzte, weniger drastische Version wurde für den Einsatz in der pädagogischen Arbeit geschnitten. Doch der Zweck heiligt nicht die Mittel und die Verurteilung von einzelnen Täter:innen ist zwar notwendig, löst aber nicht das strukturelle Problem. Mehr Aufklärungsarbeit, mehr Sensibilität für Opfer, mehr geschütze Infrastrukturen sind Ideen, die für diese Absicht sinnvoller und nachhaltiger scheinen. Doch gerade daran schienen die Filmschaffenden nicht interessiert zu sein.
Der Film ist ab dem 27.06. auf der Website https://gefangenimnetz.de/ zu sehen.
Hinweis: Die Kritik bezieht sich auf Kinofassung des Films, nicht auf die Schulversion, die extra für den Einsatz im pädagogischen Umfeld geschnitten wurde.
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