My Talk With Florence – Reden über sexualisierte Gewalt

ACHTUNG: Der folgende Text wie auch der hier besprochene Film enthalten Trigger zu sexualisierter und psychischer Gewalt.

Die Lebensgeschichte von Florence Burnier-Bauer erinnert an dystopische Science Fiction Szenarien im Stil von The Handmaid’s Tale. Wenn die Künstlerin über ihre Zeit in der sektenähnlichen Kommune von Otto Mühl berichtet, klingt das nach der fiktiven Überzeichnung einer patriarchal strukturierten, auf sexueller Ausbeutung basierten, faschistoiden Gesellschaft, die es so in der Realität vermeintlich gar nicht geben kann. Doch es kann sie geben beziehungsweise hat sie gegeben.

© Paul Poet

Aber damit nicht genug, denn auch die Kindheit, Jugend und das frühe Erwachsenenalter Burnier-Bauers sind von Gewalt geprägt. Von Großvater und Vater über Jahre psychisch und körperlich missbraucht, flieht sie mit 17 Jahren aus ihrem Elternhaus und begibt sich auf eine viele Jahre währende Odyssee durch Frankreich. Weitgehend obdachlos, verfolgt von Polizei und Jugendamt, wandert Florence Burnier-Bauer erst allein, später mit ihren drei Kindern von Ort zu Ort bis sie in der Kommune von Otto Mühl vermeintlich eine Basis findet. Doch statt der ersehnten Sicherheit, die sie sich vor allem für ihre Kinder und weniger um ihrer selbst willen wünscht, findet sie nur eine Steigerung jenen Terrors, dem sie mit 17 Jahren einst entflohen ist.

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Wie aber eine solche Geschichte erzählen, ohne sie auszuschlachten, ohne rape culture Mythen zu nähern, ohne erneut jene Bilder zu kreieren, die sexualisierte Gewalt als Bestandteil unserer Kultur fortschreiben? Regisseur Paul Poet wagt ein Experiment: Gute zwei Stunden interviewt er seine Protagonistin mit nur einem einzigen Schnitt, der das Gespräch in zwei gleichgroße Teile spaltet. Vor der Kamera sitzt Florence Burnier-Bauer in einem Wohnzimmer auf einem Sessel, in ihrem Arm eine verstörende Puppe mit blutverschmiertem Mund. Dies ist eine Inszenierung, die sie selbst vornimmt, so wie sie überhaupt größtenteils die Macht über das Gespräch und seine Richtung behält. Die Puppe ist kein Requisit, das der Regisseur hier zur Steigerung der Dramatik im Bild platziert. Burnier-Bauer entscheidet sich selbst für diese ungewöhnliche „Begleitung“ und betont damit, ob nun bewusst oder unbewusst, auch die Bedeutung des Themas Mutterschaft für ihre Lebensgeschichte. Dabei transportiert die blutige Lumpenpuppe das Gefühl der Schuld der Protagonistin in Anbetracht jenen Lebens, das sie ihren Kindern im Zuge des Vagabund_innendaseins, vor allem innerhalb der Kommune zugemutet hat.

© Paul Poet

Denn was Florence Burnier-Bauer ihrer Mutter vorwirft, ihren Berichten über den Missbrauch durch den Großvater keinen Glauben geschenkt zu haben, wiederholt die Erwachsene Burnier-Bauer schließlich selbst, als sie die sexualisierte Gewalt Otto Mühls an ihrer eigenen, damals neunjährigen Tochter ausblendet. Dabei zieht sie die Verbindung zwischen ihrem Leben in der Kommune und dem familiären Missbrauch durchaus selbst, erkennt, dass sie dem Sog Otto Mühls vor allem auf Grund ihrer psychischen Disposition nicht widerstehen konnte – eine Disposition, die sich aus ihren eigenen Gewalterfahrungen ergibt.

Und so erzählt die Geschichte von Florence Burnier-Bauer auch von der Genese jener Ausbeutungsstrukturen, wie sie auf subtile Weise in jedem patriarchalen und sexistischen System, also auch unserer aktuellen Gesellschaft, vorherrschen. Schon als Kind lernt Florence, die Ursache für ihre Wut in sich selbst zu suchen. Psychiatrieaufenthalte in jungen Jahren rauben ihr das Vertrauen in die eigene Wahrnehmung und Urteilsfähigkeit und damit auch die Fähigkeit, sich gegen Übergriffe zur Wehr zu setzen. Auch im Interview mit Paul Poet bezeichnet sie sich immer wieder als geistesgestört. Erst nach der Verurteilung Otto Mühls, also mit über 40 Jahren, habe sie sich erstmalig gegen einen sexuellen Übergriff wehren können, berichtet sie. Und damit geht es in My Talk With Florence um viel mehr als nur die singuläre Lebensgeschichte einer Frau*, nämlich ein komplexes System patriarchalen Machtmissbrauchs, das schon mit der Erziehung beginnt und sich ohne weiteres auf aktuelle feministische Diskurse über die Pathologisierung weiblicher* Wut, die Verfügbarkeit weiblicher* Körper und strukturell verankerte sexualisierte Gewalt übertragen lässt.

© Paul Poet

Florence Burnier-Bauer jedoch bricht mit dem tradierten Opfer-Narrativ auch auf unbequeme und streitbare Weise, wenn sie über den sexuellen Missbrauch von Jungen* innerhalb der Otto Mühl Kommune spricht. Da erst eine Erektion penetrativen Geschlechtsverkehr ermögliche, würden Jungen* zumindest in heterosexuellen Missbrauchssituationen immer stärker als Mittäter angesehen als dies bei Mädchen* der Fall sei. Diese Logik jedoch ist laut Burnier-Bauer zutiefst sexistisch, denn auch sie habe in Situationen sexualisierter Gewalt insofern „funktioniert“, als dass ihr Körper Reaktionen physischer Erregung zeigte. Damit bricht sie zugleich ein Tabu und adressiert Teilaspekte des Vergewaltigungsdiskurses, nämlich jenen von der vermeintlichen Widersprüchlichkeit sexualisierter Gewalt und körperlicher Erregung. Oder anders formuliert: Die Lubrikation der Scheide ist ebenso wenig wie eine Erektion Indiz für einvernehmliche sexuelle Handlungen.

Innerhalb des von Paul Poet gewählten Konzepts für seinen Interviewfilm ist jedoch kein Raum dafür, Florence Burnier-Bauers Ausführungen zu kontextualisieren, beispielsweise die eben genannte Passage in einen größeren Diskurs einzuordnen und über die singuläre Aussage hinaus ethisch zu verhandeln. Das ist gefährlich, denn das Statement an sich könnte schließlich doch wieder rape culture Mythen wie jene der Täter-Opfer-Umkehr nähren. Denn eins ist klar beziehungsweise sollte klar sein: Bei sexualisierter Gewalt geht es nicht um Sex, weshalb „sexuelles Funktionieren“ für die Frage, ob eine Vergewaltigung stattgefunden hat vollkommen irrelevant ist.

© Paul Poet

So bleibt My Talk With Florence ein guter, letztlich aber eben nicht in Gänze erfolgreicher Versuch, sexualisierte Gewalt angemessen zu adressieren und auf individueller wie auch struktureller Ebene zu verhandeln. Der Film überzeugt vor allem durch die diskursive und dramaturgische Macht in den Händen der Protagonistin, die hier selbst entscheidet, welchen Teil ihrer Geschichte sie wie erzählen möchte. Auch das Fehlen jeglicher Illustrationen oder anderer Formen der Dramatisierung kommt dem Konzept zu Gute, entwickelt die Geschichte von Florence Burnier-Bauer doch allein durch das gesprochene Wort bereits ausreichend Kraft um zu bewegen, ohne pseudo-kathartisch zu rühren. Am Besten eignet sich der Film von Paul Poet als Ausgangspunkt für Diskussionen zur Genese sexualisierter Gewalt im Kontext von #MeToo und Machthierarchien sowie für Überlegungen zu ihrer audiovisuellen Darstellbarkeit – also für Settings, in denen eben jener Kontext gegeben ist, den der Film in dieser Form selbst nicht herstellen kann.

Auf DVD erschienen

Sophie Charlotte Rieger
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