FFMOP 2025: Les Courageux

Jule, Claire, Loic und Sami träumen von einem Haus, das nur ihnen gehört, statt ständig umzuziehen und jeden Rappen zweimal umzudrehen. Zusammen besuchen sie die renovierungsbedürftige Liegenschaft in der Nähe, die ihnen ihre Mutter zu erwerben verspricht. In Wahrheit jedoch konnte Jule die letzten drei Monatsmieten der Wohnung nicht bezahlen und besucht eine Unterstützungsstelle, um einen Kredit anzusuchen. Der Berater hält sie jedoch für egoistisch, wirft ihr vor, sich selbst verwirklichen zu wollen, statt an ihre Familie zu denken. Als er auch noch Autismus und Asperger uneinsichtig gleichstellt, denn ihr Sohn Loic befindet sich auf dem Spektrum, platzt ihr der Kragen. Jasmin Gordons Spielfilm erzählt von einer Frau, die auch mal explodiert, wenn sich die Steine auf ihrem Weg stürmen. Daneben aber findet sie ihren eigenen, nicht weniger hindernisreichen Pfad. Ophelia Kolb stellt eine entschlossene, liebevolle und energische Mutterfigur dar.

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___STEADY_PAYWALL___Die Ortschaft in den Schweizer Bergen, die Jule mit ihren drei Kindern bewohnt, ist klein – eine Gegend, in der sie mit ihrem unkonventionellen Lebensstil und ihrer schlagfertigen Art eher eine Außenseiterin verkörpert. Viel erfahren wir über sie nicht, Hinweise zu ihrer Vergangenheit liefert Les Courageux erst nach und nach, denn die meiste Zeit folgen wir der Handlung mit dem Wissensstand der Kinder, vor allem der ältesten, Claire. Die versteht von so manchen Vorgängen aber mehr, als ihre Mutter denkt, auch wenn sie ihren Nachwuchs immer wieder versucht, mit Lügen von der Realität abzulenken. Warum etwa verlässt sie nach 17 Uhr nicht mehr die Wohnung, wie Loic es seinem Lehrer schildert, der misstrauisch nach dem Arbeitsverhältnis der Mutter fragt. Jules’ Lügen gegenüber ihren Kindern lassen sie als Figur nicht nur schwer greifbar, sondern zuweilen auch moralisch ambivalent erscheinen. 

Mit einer merkwürdigen Situation steigt Les Courageux auch ein. Jule lässt ihre Kinder in einem Lokal an einem Parkplatz warten, verschwindet und taucht nicht mehr auf. Die drei gehen alleine nach Hause, wo ihre Mutter erst am Abend wieder zu ihnen stößt und ihnen vorwirft, sie gesucht zu haben. Irgendetwas anderes fiel hier vor, so viel wird klar. Ein wenig erinnert der Einstieg an Andrea Arnolds Kurzfilm Wasp, in dem vier Kinder auf einem Parkplatzgelände auf sich alleine gestellt sind, während ihre Mutter auf einem Date geht. Beide Mutterfiguren eint, dass sie zwischen Sorge- und Lohnarbeit sowie privaten Verpflichtungen und Freuden gestresst durchs Leben schreiten. Verständnis für ihre Situation müssen sie sich in der Gesellschaft um sie herum erst erkämpfen.

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Da wäre etwa das Geburtstagsfest eines Freundes von Sami, für das Jule noch schnell ein Geschenk „besorgt“. Im Supermarkt weicht sie einer Angestellten dezidiert aus – ein unausgesprochener Konflikt scheint sie zu verbinden. In diesen Szenen arbeitet Les Courageux mit statischer bzw. fahrender Kamera, während besonders in emotional aufgeregten Situationen – was schöne und spannungsgeladene Momente einschließt, eine dynamische Handkamera zum Einsatz kommt. Ebenfalls für Spannung sorgt ein wiederkehrendes Bild, das auch vor die erste Szene gesetzt ist: die Aufnahme von Bäumen und Gebüsch, dem sich die Einstellung mit einem Zoom nähert, untermalt von mysteriösen Geräuschen. Was es damit auf sich hat, wird sich erst ganz am Ende zeigen.

Jasmin Gordon porträtiert nicht nur eine Mutter, sondern auch den Zusammenhalt einer Familie, die sich gemeinsam gegen Hindernisse von außen behauptet. Les Courageux thematisiert die sozial prekäre Lage einer Alleinerziehenden, ohne dabei auf platte oder allzu oft gesehene Szenen zurückzugreifen. Auch das Spiel mit dem Wissen der Kinder und des Publikums, die Frage nach Wahrheit und Lüge, sorgen bis zum Ende für Spannung.

Bis zum 2. Februar im Streaming-Angebot des 46. Filmfestival Max Ophüls Preis zu sehen.

Bianca Jasmina Rauch
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