FFHH 2025: Gedanken zu Müttern im Film
Muttersein wird häufig als Privatsache abgetan – und ist in Wahrheit natürlich höchst politisch. In vielen Filmen begegnen uns Mütter in ihrer Rolle als Care-Arbeiterin, als fürsorgende, selbstlose Person, deren Wohlergehen am Wohlergehen ihrer Kinder hängt. Dabei spielen sie häufig die Nebenrollen, sie bleiben nicht im Gedächtnis. Die Mutter im Film Little Women ist verantwortungsbewusst, der emotionale Fels in der Brandung ihrer Töchter und schafft es, für Konflikte liebevoll und bestimmt Lösungen zu finden. Auf der anderen Seite gibt es die „schlechte“ Mutter, die ihrer Rolle nicht gerecht wird, wie Filmlöwin Sophie Charlotte Rieger die Mutter in Tom Tykwers neuem Film Das Licht hervorragend analysiert. Im norwegischen Dokumentarfilm A New Kind of Wilderness erleben wir den Tod der vierfachen Mutter Maria, die also die abwesende Mutter verkörpert – im Film übernimmt der Vater die schwierige Rolle der Verantwortungsperson.
Zur Berlinale 2025 hat Sophie einen persönlichen Festivalbericht zum Thema Mutterschaft veröffentlicht. Auch die Filmauswahl des diesjährigen Filmfest Hamburg knüpft an die weiterhin starke Präsenz von Themen um Mutterschaft, Reproduktionsarbeit und Vereinbarkeit an. Ich habe in Hamburg drei Filme gesehen, die direkt oder indirekt die Rolle der Mutter behandeln. Vor allem in Junge Mütter, dem neuen Film der Dardenne-Brüder, werden wichtige Fragen gestellt, die dem Muttersein Raum und Freiheiten geben. Shape of Momo von Tribeny Rai und Die jüngste Tochter von Hafsia Herzi von zeigen zwei Mutterrollen, die ihre Töchter auf der Suche nach Identität unterstützen. Ich wünsche mir mehr Diskussion dazu, zu der Verantwortung, die Mütter tragen – und der großen Frage, wie wir als Gesellschaft sie dabei unterstützen können und müssen. ___STEADY_PAYWALL___

© Dalley Khorsani Productions
Shape of Momo von Tribeny Rai
Der Spielfilm von Tribeny Rai zeigt den persönlichen Kampf zwischen Tradition und Moderne, zwischen weiblicher Emanzipation, Selbstbestimmung und der Suche nach Geborgenheit. In einem nordindischen Dorf, an den Füßen des Himalayas, kehrt Bishnu (Gaumaya Gurung) in ihrem Heimatdorf in das Haus ihrer Mutter zurück, die dort mit Bishnus Großmutter und ihrer Schwester lebt. Bishnu eckt an mit ihren Werten und Perspektiven, die sie in den Jahren in der Stadt gewonnen hat. Sie stört sich an der Weichheit ihrer Mutter, die auf Geld verzichtet, um Konflikte zu meiden und vor allem ihre Außenwirkung in der Dorfgemeinschaft wahren möchte.
Die Dorfgemeinschaft ist geprägt vom aufkommenden Kapitalismus, von Tourismus, Migration und Vertreibung und der fast zynischen Omnipräsenz technischer Geräte aller Art. Während werdende Mütter hoffen, als erstgeborenes Kind einen Sohn zu bekommen, ist Bishnu eine Tochter geworden, die im Dorf für ihre Erfolge in der Stadt gefeiert wird, weil die Gemeinschaft dies auf ihre „Erziehung wie ein Junge“ zurückführt. Männer treffen die Entscheidungen, bestimmen das Dorfleben, das Patriarchat ist unausgesprochen überall. Von Bishnu wird eine Hochzeit mit einem Mann erwartet, mit dem Sohn des Politikers, der im Dorf ein Hotel bauen wird. Sie wird weicher mit der Zeit, versteht die Feinheiten der Gemeinschaft, in der sie sich mit ihren Werten und Perspektiven Feinde macht und nicht ankommen mag.

© Dalley Khorsani Productions
Wenn sie joggen geht oder wenn sie am Fluss liegt, spürt man ihre Liebe zu ihrem Heimatdorf und ihren inneren Konflikt, sich nicht zugehörig zu fühlen und sich doch nach einem Gefühl von Heimat zu sehnen. Es ist ihre Mutter, die sie verstehen kann. Denn sie hat sich damals entschieden, im Dorf zu bleiben, anstatt in die Stadt zu ziehen und wünscht ihrer Tochter das genaue Gegenteil: Kämpfe nicht gegen dich selbst, um dazuzugehören, sondern gehe dorthin, wo du deinesgleichen findest und wachse über dich hinaus. Ein Film voller weiblicher Suche nach Identität und Zugehörigkeit, voller inneren und äußeren Kämpfen und einer Gemeinschaft, die wächst und sich stetig verändert, und in einigen Traditionen zu statisch bleibt. Wir hätten der Mutter gewünscht, auch in ihrer Jugend schon den Mut zu finden, ihren eigenen Weg zu gehen. Jetzt wünschen wir es Bishnu – und sind erschrocken, dass dieser Weg immer noch so steinig ist.

©Kathu studio Arte France mk2 films_Alamode Film
Die jüngste Tochter von Hafsia Herzi
Eine muslimische, queere Coming-of-Age-Geschichte, nah erzählt in langen, langsamen Einstellungen, mit wenig Dialog und dafür umso mehr Intimität, Berührung und Beziehung. Hafsia Herzi hat die Romanvorlage von Fatima Daas als Regisseurin umgesetzt und dabei ein sehr authentisches Bild der vielschichtigen Protagonistin geschaffen. Die auf den Pariser Straßen gecastete Nadia Melliti hat nicht umsonst die goldene Palme als beste Schauspielerin in Cannes gewonnen: Sie spielt grandios die junge Fatima, eine gläubige Frau mit algerischen Wurzeln, die in einem Pariser Vorort die Schule beendet und ihre Queerness entdeckt. Fatima unternimmt erste zögerliche Versuche, Frauen unter anderem Namen und mit anderer Persönlichkeit Geheimnisse über Sex zu entlocken. Schließlich öffnet sie sich, verliebt sich in Ji-Na und wird schmerzhaft verletzt. Nach und nach bahnt sie sich ihren eigenen Weg in die queere Community Paris’, nicht ohne sich Fragen zu ihrem Glauben, ihrer Herkunft und der Bedeutung, die ein Coming-out für sie haben kann, zu stellen.

©Kathu studio Arte France mk2 films_Alamode Film
Die jüngste Tochter bringt als wichtiger Beitrag den Konflikt zwischen queerer, weiblicher Liebe und muslimischen Glauben auf die Leinwand. Auch in diesem Film spielt die Mutter (Laiendarstellerin Amina Ben Mohamed) eine tragende Rolle bei der Suche ihrer Tochter nach Identität. Nadia weiht ihre Mutter nicht in ihr Geheimnis ein, zu groß ist die Angst davor, abgelehnt zu werden, zu groß noch die eigene Unsicherheit, mit ihrem Gefühl umzugehen. Doch trotzdem schafft ihre Mutter es, ihr den nötigen Halt zu geben, ihr Verständnis zu zeigen, auch für das Ungesagte. Der schmale Grat zwischen der Ablösung vom eigenen Elternhaus, und damit verbunden mit dem Infrage stellen der gelernten Werte und Regeln, und dem Verlangen nach einer emotionalen Sicherheit und Geborgenheit, wird nicht erzählt oder gelöst, sondern in Blicken, zarten Berührungen und kleinen Gesten angedeutet. Die jüngste Tochter ist keine abgeschlossene Erzählung, sondern ein Einblick in eine Welt, in der unsere Gesellschaft viel lernen kann, über Zusammenhalt, Diversität und die Anerkennung des Anderssein.
Jeunes mères – Junge Mütter von Jean-Pierre und Luc Dardenne
Jean-Pierre und Luc Dardenne, bekannt für ihre sozialkritischen Einblicke in kaum gesehene Aspekte unserer Gesellschaft, haben mit Jeunes mères – Junge Mütter ein Porträt von fünf weiblichen Teenagerinnen geschaffen. Jessica, Julie, Ariane, Perla und Naïma leben als Mütter und werdende Mütter gemeinsam in einem Heim, wo sie Unterstützung finden beim Umgang mit ihren Kindern und ein selbstständiges Leben als Mutter zu lernen. Sie sind alle geprägt von psychischen Erkrankungen, Süchten und emotionaler Abhängigkeit. Fast dokumentarisch begleiten wir sie dabei, wie sie einander Solidarität geben und in ihren Beziehungen zu ihren Partnern und ihren Müttern enttäuscht und verletzt werden, Fehler machen und über sich hinaus wachsen. Sie kämpfen auf sehr unterschiedliche Weise mit familiären Traumata und der Verantwortung, junge Mütter zu sein. Dabei treffen sie Entscheidungen, die nicht nur ihr eigenes Leben, sondern auch das Leben ihrer Kinder langfristig beeinflussen und prägen.

© Christine Plenus
Jeunes mères – Junge Mütter besticht durch einen Mix aus Freude, Liebe, Trauer und Enttäuschung, aus Nähe, Distanz und weiblicher Solidarität. Vor allem das Heimpersonal agiert immer wieder beeindruckend warm und professionell, indem sie den jungen Müttern nicht nur ein Zuhause geben und sie in ihren Schwierigkeiten unterstützen, sondern sie auch in die Pflicht nehmen und sie in ihrer Verantwortung fordern und fördern. Die Protagonistinnen lernen, Muttersein als gesellschaftliche Aufgabe zu sehen, der man sich nicht alleine stellen muss, sondern die ein funktionierendes Unterstützungs-System benötigt.

© Christine Plenus
Sie diskutieren Gedanken zum Schwangerschaftsabbruch oder der Entscheidung, ein Kind zur Adoption freizugeben. Dabei schaffen sie es, die Thematik differenziert zu betrachten und ihr den nötigen Raum zu geben. Gibt es eine andere Familie, die meinem Kind eine bessere Zukunft bieten kann? Will ich alleine ein Kind großziehen und wenn ja, wo kann ich mir in oder außerhalb meines privaten Umfelds die nötige Unterstützung suchen? Wie kann ich eine gesunde Beziehung zu meine*r Partner*in, zu meiner Familie und zu meinem Kind in Einklang bringen, ohne meine eigenen Wünsche und Werte zu verlieren? Wir brauchen mehr Filme, die die Komplexität dieser Rolle beleuchten und den Fragen Raum geben, mit denen wir uns als Gesellschaft dringend intensiver beschäftigen müssen.
Im Rahmen des FFHH 25 hat FILMLÖWIN Interviews mit Natia Melliti und Monika Treut geführt, die zu den Filmstarts der Filme Die jüngste Tochter (Nadia Melliti, 25. Dezember 2025) und No Mercy (Monika Treut, 8. März 2026) erscheinen werden.

© Foto: privat
Über die Gast-Löwin:
Lea Lünenborg hat Kommunikations- und Medienwissenschaften in Leipzig und Bremen studiert und arbeitet aktuell in Berlin in der Filmproduktion und der Organisation von Filmfestivals. Sie interessiert sich vor allem für historischen und gesellschaftskritischen Film.




