FFHH 2019: Milla Meets Moses (Babyteeth)
Es ist alles ein bisschen merkwürdig, was da in Shannon Murphys Babyteeth (Deutscher Verleihtitel: Milla Meets Moses) passiert. Wie dieses junge Mädchen in Schuluniform sich Hals über Kopf in diesen Typen verknallt, dem seine Drogenprobleme ins Gesicht geschrieben stehen. Und wie die Eltern reagieren – die Mutter völlig dicht von den Psychopharmaka, die ihr der Ehemann und Psychiater in Personalunion verschreibt. Dazu eine wacklige Handkamera und Close-Ups, die Verwirrung transportieren und Zwischentitel, die ständig mit der filmischen Illusion brechen. Irgendwie ist das doch alles Chaos. Lustiges Chaos. Aber Chaos.
Und dann schleicht sich immer mehr Ernst in diese krude Aufstellung: Das junge Mädchen, Milla (Eliza Scanlen), hat Krebs, ihre Eltern sind verrückt vor Sorge und ihr Schwarm Moses (Toby Wallace) tatsächlich schwer drogenabhängig. Immer mehr Lacher bleiben im Halse stecken, während Vater Henry (Ben Mendelsohn) und Mutter Anna (Essie Davis) entscheiden, dass außergewöhnliche Situationen auch außergewöhnliche Strategien erfordern. Und schließlich ist von der Komik kaum mehr etwas übrig.
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Babyteeth als Krebsdrama zu bezeichnen, wäre zu einfach. Denn es geht dieser Geschichte weniger um den Krebs, ja nicht einmal um den Tod, sondern vielmehr um die Bewältigungsstrategien, mit denen Menschen diese und andere Krisen zu fassen versuchen. Es geht um das Leben an sich, um seine Unberechenbarkeit und wie es gelingt, oder eben auch nicht, die Kontrolle an das Schicksal abzugeben.
Alle vier Hauptfiguren kämpfen um genau jene Kontrolle. Dabei sind die Schutzpanzer von Moses und Anna die offensichtlichsten: Mit Hilfe von Drogen ziehen sie sich vor der bitteren Wirklichkeit zurück. Aber auch Henry hat schon lange Wege gefunden, seine Emotionen hinter einer Maske zu verstecken. Und Milla durchbricht Momente von emotionaler Authentizität gerne durch Albernheit. An ihrem Geigenspiel wird es offenbar: Es fehlt der Mut, sich herzoffen den eigenen Gefühlen zu stellen und diese zu transportieren. Die richtigen Töne alleine machen eben noch keine Musik!
Hinter ihren Schutzpanzern aber können die Menschen weder sich selbst noch ihre Gegenüber begreifen. Und so sind insbesondere Henry und Anna vor allem damit beschäftigt, aneinander vorbei zu streiten und vernichtende Urteile über Moses zu fällen. „Der Junge hat Probleme“, begründen sie ihre Antipathie. Aber wer hat die hier nicht?! Das Leben schließlich zwingt alle, ihre Bewältigungsstrategien zu überdenken, und Drehbuchautorin Rita Kalnejais gönnt dabei jeder einzelnen der vier Hauptfiguren einen ganz eigenen Weg der Selbsterkenntnis und Entwicklung.
Schließlich geht auch Shannon Murphy diesen Weg der Erkenntnis und Akzeptanz mit ihrer Inszenierung mit: Die Überzeichnungen, die Babyteeth zu Beginn wie eine Komödie wirken lassen, machen mehr und mehr einem im wahrsten Sinne des Wortes aufrichtigen Drama Platz. Henry, Anna und Moses müssen sich ebenso wie das Publikum mehr und mehr der Tatsache stellen, dass das lebensfrohe Mädchen im Zentrum der Handlung, das gerade die erste große Liebe erlebt, todkrank ist. Und auch Milla muss lernen, diesen Gedanken und die damit verbundenen Emotionen zuzulassen. Denn keine Droge dieser Welt, ob nun in Form einer Tablette oder Verdrängungsstrategie, kann daran etwas ändert. So finden sowohl der Film wie auch seine Figuren mehr und mehr zu einer traurigen Ruhe, zur Akzeptanz. Und zu Gefühlen. Angst und Trauer befallen nicht nur die Menschen auf der Leinwand, sondern auch die im Kinosaal.
Dabei drückt Shannon Murphy jedoch niemals auf die Tränendrüse, benutzt Milla niemals als Vehikel für emotionale Rührung. Auch fehlen die Klischees das klassischen Krebsdramas. Die Regisseurin erspart uns die tradierten Szenen von Haarbüscheln im Ausguss, Chemo-Therapie und Erbrechen. Sie schickt ihre Hauptfigur nicht auf verzweifelte, selbstzerstörerische Partyexzesse, sondern zeigt ihre Gier nach Leben, die sich mal in der Faszination für den unkonventionellen Moses manifestiert, mal in einer Partynacht. Die Heldin ist keine Opferfigur, deren Leid wie betrauern sollen, sondern einer der Menschen, deren emotionalen Weg wir hier mit beschreiten und der uns an die Trauer über das Unabänderliche ebenso heranführt wie an die Kraft der Akzeptanz .
Die größte Leistung von Shannon Murphy ist hierbei die grandiose Verschränkung von Form und Inhalt, dass es ihr gelingt, erst eine Komödie und dann eine Dramödie zu inszenieren, die sich selbst als Verdrängungsstragie, als Schutzpanzer entlarvt und dekonstruiert, bis sie schließlich zu einem berührenden Drama wird. Ein Drama, dessen Wert nicht in der emotionalen Rührung an sich besteht, dem es also nicht um den Effekt geht, sondern um eine Einladung zur Aufrichtigkeit. „Was ist Dein Schutzpanzer?“ fragt uns Babyteeth. Wie verdrängst Du die Tatsache, dass Du keine Kontrolle über das Leben hast?!
Aber da ist auch noch etwas anderes, nämlich eine Einladung. Eine Einladung, diesen Kontrollverlust und damit auch das Leben selbst mutig zu umarmen und so wie die Held:innen dieser Geschichte unsere Herzen für alle Emotionen zu öffnen – die positiven wie die negativen. Das gelingt Milla, Moses, Anna und Henry nur durch das Eintreten der Katastrophe. Aber Dank Shannon Murphy schaffen wir es auch ohne. Denn wir haben ja jetzt diesen Film!
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