FFHH 2019: Königin

Achtung: Dieser Text enthält Trigger zum Thema sexualisierte Gewalt!

Baumwirbel: Langsam und hypnotisch dreht sich die Kamera und saugt uns mitten hinein in die verstörende Welt von May El-Toukhys Königin. Wenn Hauptdarstellerin Trine Dyrholm hier in den ersten, in kühle Farben getauchten Bildern durch den Wald schreitet, dann ist bereits eindeutig etwas im Busch. Die Stimmung ist angespannt, ein Geheimnis liegt in der Luft. Wir spüren Angst.

Dass May El-Toukhy ihre Geschichte auf diese Weise rahmt, mit dem Gefühl von Verunsicherung und Bedrohung einsteigt wie auch endet, ist für das Gelingen ihres Unternehmens unerlässlich. Denn diese ersten Einstellungen rahmen nicht nur den Plot, den anschließend die Rückblende erzählt, sie bilden auch den moralischen Bezugsrahmen für die Ereignisse: Hier passiert etwas Verhängnisvolles! Der moralische Kompass ist in diesem Fall unbedingt notwendig, denn Königin behandelt eines der komplexesten Themen, denen sich ein Film nur widmen kann: sexualisierte Gewalt.

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Was wir vermeintlich schon zigfach, vielleicht gar zu oft gesehen haben, ist in diesem dänischen Film jedoch ein bisschen anders. Denn hier ist die Täterin eine Frau*, der Betroffene ein junger Mann*. Und das Wort Vergewaltigung fällt in diesem Zusammenhang ebenso wenig wie das Wort Gewalt, was vielleicht auch der Grund dafür ist, dass Königin fälschlicher Weise zuweilen als Geschichte über Lust und Leidenschaft angepriesen wird.

Herzdame

© Danish Film Institute / Rolf Konow

Es ist ja auch ziemlich einfach, vielleicht zu einfach, hier unseren unbewussten Vorannahmen aufzusitzen und die eigenen Maßstäbe daran zu verlieren, wann eine einvernehmliche Sexualität endet und ein Übergriff beginnt. Es fällt uns schlichtweg schwerer, eine Frau* als Täterin zu identifizieren, als einen Mann* entsprechend zu verurteilen. Doch legen wir die Fakten hier einmal ganz klar auf den Tisch: Die Anwältin Anne beginnt eine sexuelle Affäre mit ihrem minderjährigen Stiefsohn. Mehr muss eigentlich nicht gesagt werden, um diese Tat eindeutig als Form von Gewalt zu bezeichnen.

Aber May El-Toukhy macht es ihrem Publikum nicht so einfach, will es ihm nicht einfach machen. Sie ist ihrer Hauptfigur so nah, dass wir sie zunächst als Sympathieträgerin missverstehen. Auch die Kameraperspektive vollzieht die Blicke Annes nach, beispielsweise in einer beeindruckenden Schlüsselszene vor dem Schlafzimmerspiegel. Nachdem sie ihrem Stiefsohn und dessen Freundin beim Sex zugehört hat, betrachtet die Hauptfigur hier ihr nacktes Abbild, berührt ihren Körper, strafft den von der Schwangerschaft gezeichneten Bauch. Doch in diesen Bildern liegt nicht der übliche Voyeurismus des männlichen* Kamerablicks. Es ist kein Blick auf Anne, sondern durch sie. Sie wird hier nicht zum Objekt degradiert, vielmehr handelt es sich bei diesem Moment um die Spiegelung ihrer sexuellen Subjektwerdung, das Erwachen ihres Begehrens für den ihr schutzbefohlenen Jungen.

Das Überschreiten von Grenzen geschieht nun leise, aber doch eindeutig und vor allem durch Annes Initiative. Sie nimmt sich, was sie begehrt, überrollt mit ihrer erwachsenen Leidenschaft den viel zu jungen Gustav, der sich – nicht wissend wie ihm geschieht – auf das Abenteuer einlässt. Missbrauch und Romanze verschwimmen nun auf gefährliche Weise, wenn El-Toukhy Anne und Gustav in sonnendurchfluteten Bildern inszeniert. Fast könnten wir – wie Anne – vergessen, dass es sich um einen Akt der Gewalt handelt.

Herzdame

© Danish Film Institute / Rolf Konow

Schließlich belehrt El-Toukhy jedoch alle eines Besseren. Sie zeigt die qualvollen Konsequenzen, die sich für Gustav aus diesem Überschreiten seiner Grenzen und vor allem dem darin liegenden Machtmissbrauch ergeben. Denn letztlich ist es natürlich Anne, die am längeren Hebel sitzt, die sich schützen kann, die die Kontrolle behält. Und spätestens jetzt ist es auch mit der Sympathie des Kinopublikums vorbei, das nun nur noch widerwillig, aber doch mit einer paradoxen Faszination die Geschichte weiterhin aus ihrer Perspektive verfolgt.

Die große Leistung von Regisseurin May El-Toukhy ist hierbei, dass die Entwicklung von Anne, wie auch die aller anderen Figuren, durchgehend glaubwürdig bleiben. Der notwendige Narzissmus und Egoismus, die den Missbrauch erst möglich machen, sind in der Charakterzeichnung Annes ebenso von Anfang an angelegt wie die Verletzlichkeit im vermeintlich schwarzen Schaf der Familie, dem pubertierenden Gustav. Trine Dyrholm verkörpert die Ambivalenz ihrer Figur dabei meisterinnenhaft, verleiht Anne eine Vielzahl unterschiedlicher Facetten, inklusive zutiefst düsterer Persönlichkeitsanteile, ohne sie jemals auf banale weise dämonisch wirken zu lassen.

Die große Frage ist: Wie würden wir May El-Toukhys Inszenierung bewerten, wenn der Täter ein Mann* wäre, wir zu Sympathie mit ihm aufgerufen wären und durch seine Augen ein junges Mädchen* sexualisiert betrachteten? Wenn wir uns dagegen aussprechen wollen, dass sexualisierte Gewalt aus Sicht der Täter_innen geschildert wird, dann müssen wir auch Königin aufs Schärfste verurteilen. Immerhin macht die anfängliche Empathie für Anne schließlich Verachtung Platz. Ihre Emotionen können uns nicht mehr rühren. Unsere Empathie gilt nun vollständig Gustav. Doch in verschiedener Hinsicht ist es dann bereits zu spät. Vielleicht will uns Königin auch genau das mit auf den Weg geben: Es gibt auch bösartige Frauen*. Und es wird Zeit, dass wir von ihnen erzählen, damit wir sie erkennen können. Auch in uns selbst.

Sophie Charlotte Rieger
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