Berlinale 2025: SIRENS CALL – Miri Ian Gossing & Lina Sieckmann im Interview

Sechs Jahre lang haben Miri Ian Gossing und Lina Sieckmann immer wieder monatelang in der amerikanischen Subkultur der Mermaids und Sirenen recherchiert. Aus ihren Beobachtungen ist der hybride Dokumentarfilm Sirens Call entstanden, der ihre Protagonistin Una porträtiert und auf der 75. Berlinale in der Sektion Forum Premiere feierte. 

Lina Sieckmann und Miri Ian Gossing/© GossingSieckmann

Lea: Hallo Miri Ian, hallo Lina, vielen Dank für euren tollen Film Sirens Call. Wie seid ihr dazu gekommen, einen Film über Mermaids und Sirenen zu machen? 

Miri Ian & Lina: Wir beide kennen uns schon seit unserer frühesten Kindheit und sind in demselben kleinen Dorf im Bergischen Land aufgewachsen. Es gab da schon früh ein Interesse am Fantastischen, eine Faszination für Shape-shifting Wesen wie zum Beispiel Sirenen und Vampire. Vor ein paar Jahren sind wir in einer Lokalzeitung auf Amateurfotografien gestoßen von Menschen, die sich im Rahmen eines kleinstädtischen Schwimmkurses in leuchtenden Silikontails in kommunalen Hallenbädern oder Vorstadtgärten inszenierten. Innerhalb dieser Bilder trat für uns etwas Eigenwilliges hervor, an dem wir dann irgendwie hängen geblieben sind. Eine Sehnsucht nach etwas anderem, etwas, das sich in die domestische Sphäre des Alltags eingeschlichen hat.

Welches emanzipatorische Potenzial liegt in einem queeren Blick auf der Figur der Mermaid?___STEADY_PAYWALL___

Zunächst haben wir natürlich auch an Disney gedacht, Arielle, Hans-Christian Andersen und so weiter. Also die Idee, dass man seine Stimme aufgeben muss, nur für die Liebe eines Mannes lebt und sich am Ende zu Schaum im Meer auflöst, wenn man sie nicht erhält. Wir haben uns dann gefragt, welches emanzipatorische Potential möglicherweise in einem queeren Blick auf die Figur liegen könnte. Bei der weiteren Recherche sind wir darauf gestoßen, dass es mittlerweile eine globale Merfolk-Subkultur gibt und innerhalb der Figur viele Schnittmengen mit theoretischen Diskursen, die uns insgesamt in unserer künstlerischen Arbeit interessieren, angelegt waren.

Wir haben neben Bildender Kunst und Film auch Gender Studies an der KHM in Köln studiert und fanden es spannend, wie in der Figur der Real-Life Sirens auf konkrete Weise ganz neue Verbindungen zwischen Tier, Mensch und Technologie eingegangen werden, die die traditionellen männlich geprägten Narrative unterwandern.

„What is the real world, anyway?“

Im Film stellt eine Person in einem Interview die Frage: „What is the real world, anyway?“ – Wann sind wir in der Realität und wer bestimmt, wie diese Welt aussieht? Der Konflikt des „The Other“ wird thematisiert. Wie politisch wollt ihr mit eurem Film sein? Welche Aussage wollt ihr euren Zuschauenden mitgeben?

Ich denke, in jeder Subkultur gibt es immer ein sehr interessantes Wechselspiel aus „Eskapismus“ und „Aktivismus“. Oft hört man eine Unterstellung von Eskapismus in der man sich in eine „Bubble zurückzieht“ , ob das die „queere Bubble“ ist oder eine andere, und dann gibt es eben auch diesen Moment von Aktivismus bei unseren Protagonist*innen. Vor allem in den USA ist es für trans Personen und für queere Menschen gerade sehr schwer und die Frage wird größer: Wie kann ich mir eine Community schaffen, eine Welt, in der meine Existenz zelebriert wird und wo ich Freude empfinden kann? Wir werden häufig gefragt: Wie sind die denn alle? Das kann man überhaupt nicht sagen. Jede:r ist mit ganz unterschiedlichen Themen und Agencies in dieser Gruppe. Ein Hauptmotiv des Films bleibt bis zuletzt das Ringen um Verbindung, der Wunsch danach, sich selbst neu zu verorten. Die Idee von Identität als fester Größe wird von einer Figur wie Una ohne greifbare Biografie und mit einer anderen Idee von Zeitlichkeit natürlich komplett gegen den Strich gebürstet. Es ist nie ein: Ich bin jetzt das, das bin ich, sondern: Ich bin vieles, Widersprüchliches, zugleich und immerfort. Wir wollten da nichts zu Gunsten einer scheinbaren Einlösung dieses Wunsches einebnen oder glätten. Una hat auch im bürgerlichen Leben jeden Tag eine andere Mersona. Es war insgesamt ein Thema: Was ist Natürlichkeit, was ist Authentizität und was bedeuten diese Begriffe eigentlich? Wir hatten von vornherein den Wunsch, einen Film zu kreieren, der über Bilder und Metaphorisches politische Fragen stellt, die für uns alle, nicht nur für Merfolk, relevant sind. Una als Körper und Figur ist somit in gewisser Weise auch eine Art Seismograph für unsere postmoderne Welt in der Krise. Ihr Körper leidet in dem Umfeld, in das sie geworfen wird. Er kann unter den Klima-Bedingungen fast gar nicht mehr existieren: Atmen fällt ihr schwer und genau das ist auch einer der Momente, wo sich Dokumentarisches und Fiktion nicht mehr klar voneinander trennen lassen und Themen wie Immunität, Krankheit und Disability ins Spiel kommen.

© GossingSieckmann / filmfaust / Kochmann

„When I first came to the mainland…“

Science-Fiction, Fiktiv, Dokumentarisch: In eurem Film nutzt ihr sehr unterschiedliche Formen des Erzählens und ganz viele unterschiedliche Arten von Bildern. Wie ist das entstanden? Wie war der Prozess des Filmischen?

Das war ein sehr langer Prozess. Wir haben vor sieben Jahren angefangen, an dem Projekt zu arbeiten, und es gab verschiedene Zwischenschritte. Am Anfang haben wir viel mit Una gesprochen und viele lange Interviews mit ihr geführt. Und dann haben wir das, was dokumentarisch da war, als Versuchsanordnung in einen fiktionalen Genre-Grundrahmen überführt. Wir arbeiten zum Teil mit Originalaussagen, die dann mit der Transition ins Medium Science-Fiction nochmal ganz andere Bedeutungen entfalten („When I first came to the mainland…“). Unsere Figur, wie auch der Film als Ganzes, ist ein Hybrid – er oszilliert zwischen Dokumentarismus und Fiktion, wir sehen die Protagonistin Gina Ronning (Una’s bürgerlicher Name) aus Portland, ihre eigene Mersona Una the Mermaid, sowie die filmische fiktionale SIREN Figur Una  die Grenze zwischen diesen Dreien ist fließend. Im Schnitt haben wir gemerkt, dass es eigentlich gut ist, auch diesen Prozess miteinzubeziehen. 

„I sent out the frequency that you two somehow picked up on.“

Der Film beginnt mit einer Laborsituation, und das Labor steht auch für unsere Art und Weise, Filme zu machen. Wir nutzen den Film als Experiment, als Versuchsanordnung mit einem offenen Ausgang, wirklich prozessorientiert. Nicht über jemanden, sondern in Dialog und Kollaboration. Im Film sagt Una an einer Stelle sie sei es gewesen die uns gerufen hat. I sent out the frequency that you two somehow picked up on. Wir fanden es spannend, darüber nachzudenken: Was passiert denn, wenn wir keine Dramaturgie benutzen, wo es einen Höhepunkt gibt. Weil es darin so viel Problematisches gibt in der Art und Weise, wie zum Beispiel eine klassische Heldenreise-Narration funktioniert, angelegt ist, in ein Gegeneinander von Protagonist/Antagonist, ein Überwinden, ein Höhepunkt, die Auflösung. Und wir dachten: uns reizt irgendwie mehr die Figur verschiedene Genres durchwandern zu lassen. Von Science-Fiction, über Roadmovie und Doku und dann vielleicht. eine Art von Melodrama am Ende. Man blickt immer wieder aus einer anderen Perspektive auf Una. Von der Perspektive des Körpers. Von der Perspektive der Gruppe. Diese Art Film zu sehen kann herausfordernd sein, aber wir hatten das Gefühl, dass dieses Assoziative dem mehr gerecht wird, weil es keine klare Kausalität  oder Linearität vorgibt, sondern eine andere Form von Zeitlichkeit entwickelt. Man kann dann als zuschauende Person auch Nein dazu sagen oder man will sich auf diese Reise und eine völlig andere Perspektive einlassen.

Ihr hattet gerade Weltpremiere auf der Berlinale. Wie war euer Gefühl, den Film vor Publikum zu sehen? 

Wir haben den Film gerade erst fertiggestellt und ihn selbst noch gar nicht in einem großen Kino gesehen. Wir haben auch die Surround-Mischung das erste Mal gehört, den Sirenen-Gesang aus fünf Boxen, der im Raum wandert, das war toll. Und es war natürlich auch sehr schön, dass Una und Moth da waren, die beiden Protagonist*innen, die extra aus Portland, Oregon angereist sind. 

Die Leute wollten natürlich auch gerne mit den Merfolk selber sprechen und es sind sehr diskursive spannende Momente entstanden. Es gab ganz interessante, total theoretische Fragen, aber auch sehr klassische Fragen, zum Beispiel wie es ist, als Mermaid zu leben. Der Saal schien sehr eingenommen und es ist eine magische Atmosphäre entstanden. Uns sind mehrere Leute entgegengekommen, die gesagt haben, dass sie sehr, sehr berührt sind, weinen mussten und sagten, dass der Film in ihnen irgendwas geöffnet hat und sie noch nicht genau sagen können, was das ist. Ich glaube etwas schöneres kann einem als Filmemacher*in nicht passieren auf der Premiere.

© GossingSieckmann / filmfaust / Kochmann

Euer Film ist vollständig in den USA entstanden. Habt ihr auch in die Subkultur in Deutschland geschaut?

Die Szene in Deutschland ist weniger stark ausgeprägt. Es gibt auch Taucher*innen, Unterwassermodels, Umweltaktivist*innen, Performance-Artists. Die Szene in den USA ist viel diverser. In den USA haben wir jetzt sechs Jahre halbjährlich gelebt für den Film und es war ein super langer, intensiver Prozess. Und da auch festzustellen, dass es auch eine Form von Überleben in einer Gesellschaft ist, die dich so sehr unterdrückt und die so wenig Sicherheit gibt, dass politisches Engagement, Communityarbeit, nochmal eine ganz andere Rolle im Leben spielt und nochmal eine ganz andere Kraft entfalten kann als in Deutschland, aufgrund der existenziellen Bedrohung der eigenen Rechte. Und deshalb gibt es nochmal eine ganz andere Form von Subkultur und Underground-Activism. Die selbstorganisierte Linke in den USA kann uns da als Vorbild dienen, bezüglich dem, was gerade in Deutschland passiert, müssen wir in dieser Form auch hier aktiv werden.

„Una sucht, wie wir alle, nach Verbindung zu der Welt, zu sich selbst und zu anderen.“

Vielen Dank für eure spannenden Antworten und die Themen, die ihr in eurem Film ansprecht. Gibt es noch etwas, das ihr unserem Gespräch hinzufügen möchtet? 

Wir können noch über die Orte sprechen, an denen wir gedreht haben und wie sie im Verhältnis stehen zu der Figur Unas.

Unser Film zeigt viele dieser  gefundenen Orte, Shoppingmalls, Glasscheiben, das Gefühl von Entfremdung im Kapitalismus, das wir alle mal mehr oder weniger deutlich empfinden. In unseren früheren Arbeiten haben wir viel mit Architektur und Orten gearbeitet und weniger mit Figuren. Dadurch haben wir viel dieser unheimlichen Architektur und der Umgebung herausgearbeitet, die die Figur ins Verhältnis setzt zu der Gesellschaft, in der sie existiert. Es ist uns wichtig, dass der kulturelle Kontext sich in den Arbeiten miterzählt. Wir fragen in Sirens Call danach, wie die Gesellschaft auch unsere Körper formt, unser Dasein, unser Gefühl in der Welt zu sein, unseren Blick, unsere Geschichten, unsere Verbundenheit, unser Begehren. Es gibt viele dieser Momente, in denen die Zuschauenden Screens sehen, auf denen Landschaften in Hawaii gezeigt werden, dann gibt es Meerjungfrauen, die aber hinter Scheiben in einem Moment von patriarchaler Show gefangen sind. Alles an ihnen scheint eingefangen und domestiziert und instrumentalisiert. Una versucht, Kontakt zu kriegen, zu irgendetwas Echtem, einer wirklichen Verbindung, aber sie scheitert immer wieder. Stattdessen versuchen wir uns mit Wellness und pseudo-spirituellen Angeboten am Leben zu halten. Die Figur struggled in dem Köper, in dem sie da gelandet ist, hat Schwierigkeiten, Fuß zu fassen in dieser Welt. Dadurch entsteht das Gefühl von Entfremdung, Leere, ein großes Vakuum. Jede Form von Kontakt wird dir nur noch als kapitalistisches, durchorganisiertes, kaufbares Erlebnis vermarktet. Damit du überhaupt klarkommst, zahlst du im Film selbst für deinen eigenen Atem – „Welcome to the Breathe Bar“. Da sind wir wieder in diesem Verhältnis von Utopie und Dystopie, die dieser Film versucht zu balancieren und zu navigieren. Una sucht, wie wir alle, nach Verbindung zu der Welt, zu sich selbst und zu anderen. Egal wie sehr wir als Menschen versuchen, unter Kontrolle und in Sicherheit zu sein, uns zurückzuziehen, was wir wirklich brauchen, ist wahrhaftiger Kontakt und Verbindung.

Die Trump-Ära dieser Zeit schwingt mit in dem Prozess dieser Zeit, in der wir gedreht haben, sehr viele der Gefahren, wie die zahlreichen Anti-LGBTQ-Gesetze werden gerade Realität und da ist es uns besonders wichtig, neue Formen der Verbindung, Solidarität und des Zusammenseins zu erproben. Was könnten unsere queeren & migrantischen Utopien in dieser gesellschaftlichen Dystopie sein?

Sirens Call war bei der 75. Berlinale als Weltpremiere zu sehen.


© Foto: privat

Über die Gast-Löwin: 

Lea Lünenborg hat Kommunikations- und Medienwissenschaften in Leipzig und Bremen studiert und arbeitet aktuell in Berlin in der Filmproduktion und der Organisation von Filmfestivals. Sie interessiert sich vor allem für historischen Film und gesellschaftskritischen Film.