Berlinale 2024: The Outrun

Wie schon in ihrem beeindruckenden Leinwanddebut Systemsprenger widmet sich Nora Fingscheidt auch in The Outrun der intensiven Gefühlswelt ihrer Hauptfigur: Aufbauend auf den Memoiren der Journalistin Amy Liptrot erzählt Fingscheidt in ihrem Film die Geschichte von Rona (Saoirse Ronan), die von London in ihre Heimat auf den schottischen Orkney Inseln zurückkehrt, um nach dem Alkoholentzug zu neuer Kraft zu finden. Doch wie so oft liegt die Wurzel für die Probleme von heute in denen von gestern und die Begegnung mit der Familie erweist sich als die bislang größte Herausforderung für Ronas Abstinenz.

Nora Fingscheidt erzählt Ronas Geschichte auf verschiedenen Ebenen: Da ist eine mystische Ebene, die lokale Sagen, Naturphänomene und die Reflektion von Ronas Gefühlswelt in einem lyrischen Voice Over miteinander verbindet. Da sind chaotische Erinnerungsfetzen mit schnellen Schnitten, Unschärfe und schiefen Kamerawinkeln, die ihre Alkoholexzesse illustrieren und nur schwer in eine Chronologie zu ordnen sind. Da sind die auf ähnliche Weise inszenierten Angstzustände und der Suchtdruck, die Fingscheidt durch einen verengten Fokus auf Rona und einen atemlosen Schnitt illustriert. Da ist die ruhige Gegenwartsebene, die chronologische Narration von Ronas Erlebnissen auf den Orkney-Inseln. Und da ist ein Score, der zum Teil motivisch arbeitet und Momente der emotionalen Nähe musikalisch miteinander verbindet, eine Musikuntermalung, deren Dramatik niemals die Bilder überlagert, sondern mit ihnen gemeinsam eine Komposition bildet.

Portraitaufnahme der Hauptfigur Nora, gespielt von Saoirse Ronan, mit vom Wind zerzaustem Haar und entschiedenem, nach rechts gewendetem Blick. Im Hintergrund unscharf Klippen und das Meer.

© The Outrun

Nora Fingscheidt schafft es einmal mehr, mit filmischen Mitteln die Erfahrungswelt ihrer Protagonistin zu veranschaulichen und dem Publikum ein Miterleben zu ermöglichen. Wieder bleibt ihre Heldin dabei Agentin ihres Lebens und mit den Kinozuschauer*innen auf Augenhöhe. Doch im Gegensatz zum rohen Systemsprenger, der in seiner anhaltenden Intensität eine filmische Herausforderung darstellt, schafft The Outrun über das wiederkehrende lyrischen Voice Over kontemplative Momente der Entspannung, eine Pause von der brachialen Wirklichkeit von Ronas Alkoholentzug – so wie das Leben in und mit der Natur auch die Figur selbst immer wieder zur Ruhe bringt.

Alkoholismus erscheint in The Outrun einerseits als Folge einer biologischen Suchtdisposition wie auch eines kindlichen Traumas. An dieser Stelle spielt der Film leider die bipolare Erkrankung von Ronas Vater Andrew (Stephen Dillane) gegen die Suchterkrankung seiner Tochter aus: Während wir eingeladen sind, Ronas Krankheit mitzuerleben, blicken wir mit der Protagonistin auf Andrew nur von außen. Einerseits ist dies natürlich Teil von Fingscheidts Erzählperspektive, gleichzeitig differenziert die Regisseurin in ihrer dramaturgischen Einbettung der bipolaren Persönlichkeitsstörung nicht ausreichend zwischen Ursache und Trigger. So droht der Eindruck zu entstehen, Ronas Alkoholsucht sei die „Schuld“ ihres kranken Vaters, der über seine psychische Verfassung hinaus kaum Charakterisierung erfährt.

Auch wenn Nora Fingscheidt über Ronas Gruppe der Anonymen Abhängigen ein recht breites Bild von Menschen mit Suchterkrankung zeichnet, bleibt die Geschichte von The Outrun eine sehr spezifische: Fingscheidt erzählt nicht von Sucht im Allgemeinen, sondern von Rona im Besonderen, von einer Frau, die gegen ihre eigenen Dämonen kämpft. Es ist dieser Kampf, der im Zentrum der Inszenierung steht, Noras Ringen mit schmerzhaften Erinnerungen und ihrer Sehnsucht nach den schönen Momenten ihrer Vergangenheit, die Suche nach dem richtigen Umgang mit Menschen, die zugleich Familie wie auch Trigger ihres Traumas sind und die wortwörtliche Ent-täuschung von der eigenen Person. All das weiß die Regisseurin mit den Mitteln des Mediums Film so zu transportieren, dass ihr Publikum nicht nur verstehen, sondern auch begreifen kann. Die wilde Natur, die die Hauptfigur auf den Orkney Inseln umgibt, die starken Winde und die Kälte, sind letztlich ein Bild für Ronas eigene Stärke und beides fließt schließlich in einem fulminanten, musikalisch klar als sublim markierten Finale zusammen. The Outrun ist zugleich kraftvolles wie auch empathisches Kino, ein Film, der wie ein Sturm sein Publikum mitreißt und durchrüttelt, aber nicht, um es zu zerstören, sondern um es zu bewegen.

Termine bei der Berlinale 2024

Sophie Charlotte Rieger
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