Berlinale 2023: Perpetrator

Jennifer Reeder gelingt mit Perpetrator eine shape-shifting Variante der klassischen Coming-of-age Erzählung, die sich in kein Genre pressen lassen kann (und will). Die Geschichte folgt Teenager Jonny (Kiah McKirnan), die wir eingangs beim Autoknacken und kleinkriminellen Dealereien sehen. Das Geld schiebt sie ihrem Vater für die Miete zu, der mit Alkohol und Medikamenten zu kämpfen und mit der Tochter auf einer schwer greifbaren Ebene überfordert scheint. Die Stimmung spitzt sich zu und Jonny wird zu ihrer Tante Hildie (Alicia Silverstone) geschickt, eine herrlich überspitzt gezeichnete Figur, die Jonny schon bald in das blutige Geheimnis der weiblichen Familienlinie einführen wird.

Zersplitterung derselben Aufnahme wie durch ein Kaleidoskop: Ein Gesicht auf den Kopf gestellt, blutverschmiertes Kinn nach oben weisend mit gebleckten Zähnen.

© WTFilms

Vorher trifft Jonny in ihrer neuen Schule auf altbekannte High School Dynamiken, von Reeder kontrastiert mit einer Erwachsenenrealität aus schönheitsoperiertem Jugendwahn und überdrehten Schutzübungen, in denen sich die Teenager vor dem bewaffneten Schulleiter verstecken müssen – dazwischen gesprenkelt die stets präsenten Poster der tatsächlich vermissten fünf Mädchen. „I get grounded again if I get killed“, das Zitat bringt das absurde Szenario am besten auf den Punkt in einer Welt, die auf Jugend fixiert ist und gleichzeitig den eigentlichen Teenagern keinen Raum für freie Entwicklung lässt. Hyper-Empathie, in Octavia Butlers Parable of the Sower medikamenteninduzierte Schwäche und angesichts der dystopischen Weltlage großes Risiko, wird hier für Jonny zur Superpower, die ihr hilft weibliche Solidarität herzustellen und die verschwunden Teenager zu finden.___STEADY_PAYWALL___

Gruppe Teenager in High-School Uniformen mit gelben Krawatten in einer Turnhall, Kiah McKirnan als Jonny im Vordergrund guckt fokussiert geradeaus und hat einen Blutspritzer an der Lippe.

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Besonders hervorzuheben ist dabei die großartige Arbeit von DOP Sevdije Kastrati (The Marriage, Vera Dreams of the Sea), die – gestützt von souveräner Hair&Make-Up Leistung – Kiah McKirnan und Jonny’s Love Interest Elektra (Ireon Roach) perfekt ins Licht setzt. Besonders Jonnys Haare nehmen im Laufe des Films mehr und mehr Raum ein, werden in großflächiger Textur von der Kamera regelrecht gefeiert.

Nahe Alicia Silverstone als Hildie in blauem Oberteil, Haare sorgfältig geföhnt und zu einer Tolle aus der Stirn gekämmt, lange baumelnde Ohrringe, sie wirkt besorgt.

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In Reeders letztem Film Knives and Skin noch wesentlich subtiler, kommen die supernaturalistischen und surrealistischen Genre-Elemente in Perpretrator voll zum Tragen: In jeder Szene findet sich mindestens ein Blutspritzer, gleich fünf Teenager sind verschwunden, Jonnys Transformation ist ein visuelles Spektakel in eine völlig neue Form – jenseits der altbekannten Werwolf- oder Vampirmythen und schaurigschön eingebettet in die Musik von Nick Zinner (Gitarrist der Yeah Yeah Yeahs). Gegen Ende wird die Story etwas überladen, was dem Schauvergnügen aber keinen Abbruch tut:- Perpetrator ist ein queerfeministisches Blutfest voll innovativer Ideen und Liebe zum Detail.

Perpetrator läuft in der Sektion Panorama auf der Berlinale 2023, hier die Vorführtermine.

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