Berlinale 2017: Angry Inuk

Wir kennen sie alle: Bilder von niedlichen weißen Robbenbabys, die uns auf die bestialische Jagd auf diese possierlichen Tierchen aufmerksam machen sollen. Wie kann eins nur so etwas tun? Wie grausam, wie barbarisch!

Aber was wäre, wenn ich euch jetzt sage, dass diese Bilder weniger dem Tierschutz und mehr der Profitgier dienen? Wenn ich euch sage, dass sie nicht Ausdruck einer aufrichtigen Sorge um unsere Welt, sondern von westlicher Arroganz und kolonialem Denken sind?

© National Film Board of Canada

In ihrem sehr persönlichen Dokumentarfilm Angry Inuk wirft die Inuit-Filmemacherin Alethea Arnaquq-Baril einen für unser Weltbild überraschenden Blick auf die Robbenjagd und charakterisiert sie sowohl als lebensnotwendigen Wirtschaftsfaktor wie auch als nachhaltige Überlebensstrategie ihres Volkes.

Arnaquq-Barils filmische Reise beginnt im Jahr 2008 und endet 2015. Während dieser Zeit setzt sich die junge Frau* verschiedentlich für den Erhalt der Robbenjagd ein, reist nach Europa, um auf politische Entscheidungen einzuwirken, versucht Kontakt mit Tierschutzorganisationen aufzunehmen und lässt sich trotz der Vergeblichkeit ihrer Bemühungen niemals entmutigen. Ihr Film ist einerseits Portrait der heutigen Inuit-Gesellschaft wie auch Einblick in ihren ganz persönlichen Kampf als Aktivistin.

© National Film Board of Canada

Zugegeben: Anfänglich sind die Bilder von blutig verschmierten Kindermündern, die gerade eine rohe Robbe verspeist haben, sehr befremdlich. Angry Inuk beschwört in den ersten Filmminuten bewusst unsere Vorurteile herauf, um sie anschließend nach und nach zu dekonstruieren. Weder sind die Inuit grausame Jäger noch gehen sie rücksichtslos mit der Natur um. Im Gegenteil bringen sie den Robben großen Respekt entgegen, bilden sie doch seit über hundert Jahren die Lebensgrundlage eines ganzen Volkes.

Jedes Teil der erlegten Tiere wird verwertet. Weil Lebensmittel in den abgelegenen Siedlungsgebieten immens teuer sind, ist das Robbenfleisch unverzichtbarer Bestandteil der Ernährung. Zwar hat die EU im Jahr 2009 nur den Verkauf der Felle verboten, doch ist dieser wiederum die wichtigste Einkommensquelle der Inuit, ihre einzige Möglichkeit an der Weltwirtschaft teilzuhaben. Soll heißen: Wer keine Felle verkaufen darf, hat kein Geld. Wer kein Geld hat, kann – völlig logisch – weniger essen. In Folge der EU-Entscheidung gingen im Jahr 2010 sieben von zehn Inuit Kindern hungrig zu Schule.

Und hier wird das eigentliche Problem offenbar: Mit blinder Arroganz entscheiden die EU-Politiker_innen über die Tradition und Lebensgrundlage einer Kultur, die ihnen vollkommen unbekannt ist. Die Inuit wurden am Diskurs um die Robbenjagd nicht beteiligt, mussten sich mit viel Kraft und Ausdauer Gehör verschaffen und waren am Ende mit einem Ergebnis von 550 zu 49 doch vernichtend überstimmt.

Wie kann es sein, fragt Alethea Arnaquq-Barit mit ihrem Film, dass die Vertreter_innen der EU über Gedeih und Verderb eines Volkes entscheiden dürfen, das nicht mit am Tisch sitzt? Wie kann es sein, dass eben jene Menschen Staaten vertreten, in denen Massentierhaltung an der Tagesordnung ist, während sie die nachhaltige Robbenjagd der Inuit verurteilen? Robben sind nicht einmal eine vom Aussterben bedrohte Tierart, unterscheiden sich also keinesfalls von den in Deutschland legitim konsumierten Tieren wie Rindern oder Schweinen.

© National Film Board of Canada

Am Ende des Films sind wir ebenso wütend wie die Protagonistin und Filmemacherin. Die Bilder von den süßen weißen Robben, die übrigens von den Inuit überhaupt nicht gejagt werden, sondern sich einfach nur hervorragend zum Fundraising eignen, sehen wir nun mit ganz anderen Augen. Wenn Alethea Arnaquq-Baril ihrem gluchsenden Baby rohes Robbenfleisch in den Mund schiebt, finden wir das zwar immer noch befremdlich, aber der Impuls aufzuschreien und ein Verbot auszusprechen ist verschwunden. Angry Inuk gibt uns die Chance, unsere eurozentristische Perspektive zu verlassen und die Robbenjagd in jenem kulturellen Kontext zu betrachten und zu bewerten, in dem sie entstanden ist. Und damit ist dieser Film viel größer als sein konkretes Thema. Es geht um mehr als die Inuit, nämlich um jede Form von modernem Kolonialismus, innerhalb dessen westliche Machthaber_innen im Namen einer vermeintlich allgemein gültigen Moral anderen Völkern die Lebensgrundlage rauben.

Angry Inuk ist im Jahr 2017 ein besonders wichtiger Film, der uns zwingt darüber nachzudenken, dass unsere politischen und wirtschaftlichen Entscheidungen, egal mit welch positiver Absicht getroffen, in (Krisen)Regionen außerhalb unserer Lebens- und Erfahrungswelt verheerende Folgen haben können. Es ist Alethea Arnaquq-Baril für diesen aufrüttelnden Film gar nicht genug zu danken.

Sophie Charlotte Rieger
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