Das Mädchen Hirut – Das Ende ist erst der Anfang

© Alamode

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Ich bin schockiert, als ich wenige Minuten nach Beginn von Das Mädchen Hirut mit ansehe, wie eine Gruppe erwachsener Männer die hilflose Heldin auf offenem Feld überwältigt, entführt und sich dafür dann auch noch bewundernd gegenseitig auf die Schultern klopft. Als hätten sie keinen Menschen gefangen, sondern eine Antilope erlegt (was ich als Vegetarierin immer noch befremdlich fände, aber das nur am Rande). Für einen kurzen Moment zweifle ich tatsächlich den Wahrheitsgehalt des Films von Zeresenay Berhane Mehari an, weil ich nicht glauben kann (oder will?), dass Frauen auf dieser Welt so behandelt werden. Manchmal bin ich unheimlich naiv.

„Telefa“ heißt diese Tradition, die im ländlichen Äthiopien die Entführung junger Mädchen als Bräute legitimiert. Wer sich gegen diese Form der Freiheitsberaubung wehrt, handelt gegen das ungeschriebene Gesetz des Patriarchats. So etwas wie Notwehr gibt es für Frauen auch vor dem Gesetz des Landes nicht. Jedenfalls nicht bis 1996, das Jahr, in dem Das Mädchen Hirut spielt.

Die Geschichte des kleinen Mädchens, das vor seinem Entführer, Vergewaltiger und zukünftigen Ehemann flieht und dabei seinen Peiniger aus Angst um das eigene Leben erschießt, basiert auf wahren Begebenheiten, die Ende der 90er Jahre zu einem offiziellen Verbot der „Telefa“ in Äthiopien geführt haben. Mehari erzählt seine Geschichte aus der Sicht der Anwältin Meaza Ashenafi (Meron Getnet), ebenfalls eine real existierende Person, die sich dem Fall der kleinen Hirut (Tizita Hagere) annimmt und allen Widerständen zum Trotz um deren Freiheit kämpft, im Zuge dessen sogar den Justizminister selbst anklagt und ihren Beruf riskiert. Doch – und das wird in Das Mädchen Hirut sehr deutlich – wenn wir etwas in dieser Welt verändern wollen, dann müssen wir eben alles geben.

Doch Mehari inszeniert hier kein pathetisches Gerichtsdrama. Das Mädchen Hirut überzeugt durch den Verzicht auf große Dramen. Narrative Ellipsen sparen konsequent jene Szenen aus, die das Hollywoodkino besonders anschaulich oder doch zumindest intensiv inszenieren würde. Gewalttaten an der Heldin, sowie Verfolgungsjagden und ähnlich spannungsreiche Passagen werden bewusst stark verkürzt. Denn es geht hier nicht um packende Kinounterhaltung, sondern um eine Sichtbarmachung.

Darin ist Das Mädchen Hirut vielleicht manchmal zu deutlich. Die vornehmlich stumme Heldin ist ganz bemitleidenswerte Opferfigur und die Darstellung der gesellschaftlichen Missstände hebt konstant den moralischen Zeigefinger: „Schau, liebes Publikum, was auf dieser Welt Schreckliches passiert!“ Es ist die zurückhaltende visuelle Inszenierung, die Das Mädchen Hirut davor rettet, zum Betroffenheitskino zu verkommen. Auf 35mm und in natürlichen Farben gedreht, berühren die Ereignisse auf der Leinwand durch ihre Authentizität und nicht durch Tränendrüsen-Kitsch à la Hollywood. Die Schauspieler_innen stammen aus Äthiopien und der Film ist im Land selbst gedreht. Mehari, der in den USA Film studiert hat, wendet sich hier nach eigener Aussage ganz bewusst von der US-amerikanischen Filmindustrie ab. Unter anderem um durch die Sprache seinen Film auch den Menschen in seiner Heimat zugänglich zu machen.

So erklärt sich vielleicht auch, dass Das Mädchen Hirut den großen Erfolgstaumel vermissen lässt. Der Film endet eben nicht in amerikanischer Manier mit feurigen Plädoyers und einem perfekten Happy End, das den historischen Meilenstein der Gerichtsentscheidung markiert. „Ich kenne den Weg“, ist Hiruts letzter Satz. Ihr Verfahren ist nicht der Ende eines Kampfes um Frauenrechte in Äthiopien, sondern sein Anfang. Die größte Stärke an Zeresenay Berhane Meharis Film ist, dass er dieser Tatsache Rechnung trägt, dass er nicht behauptet, das Drama eines einzigen Mädchens, habe ein jahrhundertealtes patriarchales System aus den Angeln gehoben. Sondern dass er aufzeigt, dass es noch einen Weg zu gehen gibt. Für uns alle!

Kinostart: 12. März 2015

Sophie Charlotte Rieger
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