Una Primavera – zum Thema häusliche Gewalt

„Gewalt gegen Frauen wird auf so vielen Ebenen praktiziert. Ich würde sagen, es ist ein genau definiertes politisches Programm. Die Oberflächlichkeit, mit der es behandelt wird, ist ein Beweis dafür, dass das Hauptinteresse der Politik darin besteht, eine bestimmte Vorstellung von patriarchaler Macht zu bewahren.“ – Regisseurin Valentina Primavera

„Rund jede vierte Frau erlebt mindestens einmal in ihrem Leben körperliche und/oder sexualisierte Gewalt durch einen aktuellen oder früheren Beziehungspartner“, stellt das deutsche Bundesministerium fest. Häusliche Gewalt an Frauen resultiert nicht nur aus ein bisschen zu stark aufkochenden Emotionen, nicht nur aus einer toxischen Männlichkeit, die das Resultat starrer patriarchaler Strukturen ist. Sie existiert auch so hartnäckig weiter, weil ihre sich ihre scheinbare Legitimation durch die dominierenden Ungleichheitsgesetze kritikresistenter Gemeinschaften immer wieder durchsetzt. Starre soziale Geschlechterbilder sitzen so tief in den Köpfen „traditionsbewusster“ Personen, dass patriarchale Akteur*innen als Gruppe individuelle Emanzipationsbestrebungen lediglich als wenig nachvollziehbare Launen temporär dulden. In einer hegemonialen Ordnung wird ein Mann, der seine Stärke nicht physisch unter Beweis stellt, ebenso gering geschätzt, wie eine Frau, die ihre Stimme gegen ihren Partner erhebt. Gewaltakte als Ventil unterdrückter Emotionen illustriert Regisseurin Valentina Primavera in ihrem Film nicht mit fiktionalen Bildern eines Beziehungsdramas oder gewalttragender Opfernarrative. Sie wirft viel mehr einen persönlichen, dokumentarischen Blick auf die psychischen Narben physischer Gewalt und den sozialen Druck auf die Handlungen einer einzelnen Person – auf die Mutter der Filmemacherin selbst: Fiorella di Grigorio. Als deren Tochter ist Valentina Primavera auch Teil der Geschichte von Una Primavera, denn sie hat das Leid und den Kampf ihrer Mutter jahrzehntelang selbst miterlebt. Nach 40 Jahren Ehe mit ihrem gewalttätigen Partner wagt ihre Mutter zu Beginn des Films endlich den Schritt: sie reicht die Scheidung ein. Una Primavera wird zu einer begleitenden Bestandsaufnahme.

© filmdelights

Fiorellas Mut, sich nach so langer Zeit zu lösen, der Gewalt, die zur Normalität ihres Alltags gehörte, die sie aber für sich nie akzeptierte, endlich den Rücken zu kehren, wird von ihren beiden Töchtern, darunter die Filmemacherin, unterstützt. Die anderen Familienmitglieder begreifen die Lage nicht und bedauern Ehemann Bruno als bemitleidenswertes Opfer von Fiorellas Launen. Anerkennend thematisiert der Schwager die große Stärke des Verlassenen, der unter seiner ungewollten Einsamkeit zu leiden habe. Fiorella sitzt daneben, blickt in eine andere Richtung und lässt Situationen wie diese meist unkommentiert stehen. Gegen derlei Aussagen zu argumentieren, ist wahrscheinlich zwecklos, mit oder ohne anwesender Kamera. Es wird klar, dass sie es ist, die immer wieder aufs neue Mut und Stärke beweisen muss, um sich in den Verstrickungen patriarchaler Missgunst nicht selbst aufzugeben, ihren Willen und ihr Recht trotz solch gewohnter Seitenhiebe durchzusetzen. Als junge Frau ließen sie die Meinungen der anderen noch an sich und der Legitimität ihrer eigenen Einschätzung der Lage – einer Ehe, in der sie regelmäßig den Gewalttätigkeiten ihres Mannes ausgesetzt war, zweifeln.

Una Primavera zeigt ihre Protagonistin vom Beschluss, die Scheidung einzureichen, bis zu ihrem Wiedereinzug mit ihrem Ex-Ehemann. Die Filmemacherin beobachtet ihre Mutter, stellt ihr Fragen, begleitet sie zu Treffen mit der Familie und holt einzelne Mitglieder vor die Kamera. In manchen Momenten, allein mit der Tochter, zeigt sich Fiorella emotional aufgewühlt, in anderen Momenten nimmt sie anderen Anwesenden gegenüber einen ernsten Gesichtsausdruck ein. Dieser standhafte, entschlossene Blick wird zu Fiorellas Panzer nach Außen hin, in intimeren Situationen ist sie aber der Verzweiflung nahe und berichtet der Tochter in einem langen Schwall von ihrem psychischen Leid. Primaveras Debüt ist eine sehr persönliche Bestandsaufnahme, in der die Gefilmten die Kamera, deren Einstellungswinkel manchmal nahelegen, dass die Regisseurin die Aufnahmen möglichst beiläufig erscheinen lassen wollte, selten direkt kommentieren, sondern deren Anwesenheit meist nicht beachten. Dies ist auch erstaunlich, da Primavera sensible Situationen dokumentiert und Szenen größeren familiären Aufeinandertreffens filmt. Die Kamera ist auch dabei, als Fiorella nach Monaten zum ersten Mal ihren geschiedenen Mann wiedersieht. Eine emotionale Konfrontation ist erwartbar. 

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Wie gingen die Eltern und die Filmemacherin mit dem Material, mit der Präsentation der eigenen Geschichte, über deren Fortgang die in Berlin lebende Primavera zuweilen mit einem persönlichen Voice-Over berichtet, vor einem fremden Publikum um? Was erzählte die Regisseurin ihnen im Vorhinein über ihre Aufnahmen? Selten sitzt eine gesprächsbereite Person in einer talking-head Situation vor der Kamera. Es ist vielmehr so, als wäre die Kamera Valentina Primavera selbst, die ihre Mutter begleitet und immer wieder zur Zeugin der Tragweite eines tief sitzenden gesellschaftlichen Problems wird. Wenn Spielfilme, die Situationen häuslicher Gewalt darstellen, rezipiert werden, ist oft Kritik am Erzählaufbau zu hören – warum das Opfer nicht schon längst gegangen sei oder genau umgekehrt – warum sie so lange bei ihrem Mann geblieben sei, wenn er doch gewalttätig ist. Diesen Darstellungen gelingt offensichtlich nicht, die Wurzeln und Verästelungen solcher Situationen darzulegen. Anders Una Primavera. Fiorella heiratete mit 19 Jahren, baute kein eigenes Leben abseits von Eltern und Ehemann auf, konnte keine eigene Urteilsfähigkeit über das Verhalten ihres Ehemannes entwickeln. So wurde ihre Opferrolle für sie zur Norm. Wie konnte hier Emanzipation möglich werden? Erst die Solidarität der erwachsenen Töchter bestärkte die Mutter. 

Dass aber sogar Mütter mit ihren Töchtern wenig über das  „Private“ sprechen, legt auch die Aussage von Fiorellas betagter Mutter nahe, die sich auch jetzt nicht „einmischen“ will – also bei Fiorella kaum nachfragt, wie es um die Ehe bzw. die Scheidung steht. Valentina Primavera und ihre Schwester Chiara brechen mit diesem Schweigen und werden von ihrem Vater geächtet, da sie Unruhestifterinnen seien, die den Familienfrieden zerstören. Dieser on-camera Vorwurf des Vaters ist in wackeliger Untersicht visualisiert. Wusste er nicht, dass die Kamera läuft und hielt sich deshalb in diesem Moment mit seinen Anschuldigungen nicht zurück? Oder er ist, wie es auch der Schwager scheint, schlicht überzeugt von der Legitimität der eigenen Position. 

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Mit Una Primavera gelingt es der Regisseurin, eine sehr persönliche, private Ebene ins Politische zu heben, die Relevanz dieser Geschichte nicht als individuelles Problem stehenzulassen, sondern auf die verbreiteten Mechanismen hinzuweisen, die dessen Prämisse darstellen. Wenn physische Gewalt als Demonstration von männlicher Dominanz von der Mehrheit einer Gemeinschaft als normal anerkannt wird, auf welche Weise kann ein Opfer sich je aus einer solchen Situation befreien? Den Grund dafür, dass Fiorella geschlagen wurde, suchte sie zeitweise bei sich selbst – „rede nicht zurück“ wurde ihr geraten. „Besser ein Tag als Löwe als hundert wie ein Schaf“ – sagt der Schwager und beruft sich dabei auf den italienischen Diktator Mussolini. Solche Sprüche, wir kennen sie alle, halten hartnäckige tradierte Bilder fest und stellen sich gegen jegliche weibliche Emanzipationsbewegungen, da sie diese als lächerlich oder unangebracht einstufen.

Physische und psychische Gewalt sind eng miteinander verwoben. Una Primavera zeigt keine Szenen expliziter Gewalt, sondern lässt sein Publikum an den langfristigen psychischen Folgen solcher für sein Opfer teilhaben und demonstriert die Tragweite eines von patriarchaler Ideologie durchtränkten sozialen Drucks. Selbst Fiorellas Schwester erweist sich als Komplizin patriarchaler Funktionsmechanismen, indem sie neben ihrem Mann sitzend ausdruckslos schweigt. Auf Aussagen der Männer schweigen die Frauen in Una Primavera – aus Gewohnheit, das ist offensichtlich. Gegen männliche Überzeugungen zu argumentieren, war noch nie ein leichtes Unterfangen, wenn unmittelbare Solidarität fehlt. Abseits solcher Schweige-Szenerien sind es aber vor allem die Frauen, die Valentina Primavera zu Wort kommen lässt, die sie bei ihren häuslichen Tätigkeiten filmt – backen, Wäscheaufhängen, essen, putzen. Wer die Care-Arbeit leistet, wird deutlich – dazu brauchen wir keine explizite Erklärung.

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Und nach der Scheidung? Fiorella di Grigorios Ausbruch aus dem Familienhaus schien, gleich einem kurzen Frühling (ital. primavera), einen Neuanfang zu verheißen. Sie verbrachte zuerst ein paar Monate bei ihrer Tochter in Berlin, ohne Job und ohne die Sprache zu kennen und schon bald sehnte sie sich nach ihrem Haus nahe Roseto degli Abruzzi. Als der Scheidungsprozess beendet war – der Richter entschied, dass sie die Ex-Eheleute sich die Räumlichkeiten teilen sollten: sie im ersten Stock und er im Erdgeschoss – kehrte Fiorella mit Vorsicht wieder zurück. Wieso sie zurückkehrt? Was habe ich außer dem Haus und meinen Kindern, erklärt sie. Ihr ganzes Leben findet hier statt. Davor blieb es ihr verwehrt, eigene Erfahrungen zu machen, zu sehen wie und wo es anderswo zugeht. Ihr Ex-Mann habe ihr Leben zerstört und sie umgebracht, wiederholt Fiorella, als sie in das Haus zurückkehrt. Primavera begleitet dramatische Momente. Es sind emotionale Szenen, die nahegehen, ermutigen und gleichzeitig desillusionierend und ernüchternd wirken – dem Kampf um Gleichberechtigung steht ein langer Weg bevor – nicht nur in Roseto degli Abruzzi.

Auch ihre 16-jährigen Nichte, die die Situation der Großeltern mitverfolgt aber in der Tragweite noch nicht ganz versteht, holt die Regisseurin vor die Kamera. Als diese von einem Jungen erzählt, mit dem sie den letzten Abend verbrachte, zeigt sich, dass auch Frauen in dieser Generation es gewohnt sind, Interessen ihrer männlichen Gleichaltrigen dominieren zu lassen. Worüber sie denn den ganzen Abend geredet haben, fragt Primavera ihrer Nichte. Er hat mir alles über den Motor erzählt, antwortet diese mit einem Grinsen. Aber das interessiert dich eigentlich gar nicht, sagt die Regisseurin. Nein, antwortet die Nichte. Nur eine triviale Geschichte? Oder viel mehr ein Beispiel für die Mikroebenen, die geschlechtsgeprägte Dominanzverhältnisse durchlaufen? Diese entstehen aus einer Anzahl von Verstrickungen, die bereits auf minimaler Ebene beginnen. Wenn als Frauen sozialisierte Personen stets entmutigt werden, zu sprechen, zu widersprechen und bei Diskussionen das Wort mal an sich zu reißen, erheben sie auch später weniger leicht das Wort. Schweigen. Fiorella war nicht nur das Opfer ihres Mannes, sondern steht auch als Beispiel für andere Opfer eines Systems, in dem häusliche Gewalt und Femizide die Spitze des Eisberges darstellen. Una Primavera leistet einen wichtigen Beitrag, Geschichten der Unterdrückung patriarchaler Gewalt Gehör zu verschaffen und zeigt die hohe Relevanz von Solidarität für die individuelle und kollektive Befreiung. Was wäre aus Fiorella geworden, wenn sie bereits früh ein solidarisches Netzwerk, ein bestärken feministischen Kreis, um sich gewusst hätte? 

Una Primavera feierte am DOK Leipzig 2018 seine Weltpremiere.
Am 25.10.2021 läuft er um 22:40 Uhr auf 3Sat und ORF.
Zum Streamingangebot geht es hier.

Bianca Jasmina Rauch dankt der Österreichischen Gesellschaft für Geschlechterforschung (ÖGGF) für die Förderung dieses Artikels.

Bianca Jasmina Rauch
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