To Kill a Tiger
CN: Sexualisierte Gewalt
Die kanadische Regisseurin Nisha Pahuja schaut in dem Dokumentarfilm To Kill a Tiger auf den Fall der 13-jährigen Inderin Kiran, die während einer Familienfeier im Bundesstaat Jharkhand von drei Männern vergewaltigt wird. Als die Gewalttat bekannt wird, raten Mitglieder der Dorfgemeinde, der Kirans Familie angehört, das Mädchen mit einem ihrer Vergewaltiger zu verheiraten. Die Eltern der 13-Jährigen entscheiden sich gegen diese Forderung und zeigen die Täter bei der Polizei an. In einem Land, in dem, so heißt es am Ende der Doku, 90% aller Vergewaltigungen nicht angezeigt werden, wird diesem Schritt mit Widerstand und Verachtung begegnet. ___STEADY_PAYWALL___
Was wie ein unmöglich gewinnbarer Kampf gegen einen Tiger wirkt, verfolgt Pahuja entlang der Bestrebungen von Kirans Vater Ranjit. So verhandelt die Regisseurin den Umgang mit sexualisierter Gewalt geprägt von Ablehnung, Unverständnis und Täter-Opfer-Umkehr in ihrem Geburtsland Indien vor allem aus der Sicht eines männlichen Allys. Das Filmteam folgt Ranjit, wie er sich zwischen Meetings mit der NGO Srijan Foundation (welche die Familie finanziell bei ihrem Gerichtsverfahren unterstützt), der Arbeit auf den Reisfeldern, Fahrten zum Gericht und dem Familienleben zu Hause bewegt. Die Überforderung mit bürokratischen Irrwegen, Anfeindungen durch Mitglieder der Gemeinde, Drohungen durch Unterstützer*innen der Täter und den Dynamiken des Kastensystems ziehen sich als roter Faden durch den Film.
Pahuja lässt in Interviews auch die Stimmen derer, die nicht an das Selbstbestimmungsrecht von Mädchen als Grundrecht glauben, zu Wort kommen. Die alteingesessenen Konventionen der Dorfgemeinde sehen es vor, dass die Gruppenvergewaltigung unter den Teppich gekehrt wird: Polizei, Anwälte oder Gerichte sollen nicht involviert werden, denn Streits werden eigentlich nur durch den Ortsvorsteher geregelt; Kiran soll einen ihrer Vergewaltiger heiraten, denn nach den Umständen der Tat wird sie sowieso keinen Ehemann mehr finden, sagen die Älteren des Dorfes; das Kamerateam wird von nahezu allen als Störfaktor und Eindringling empfunden, der sich nicht einzumischen hat. Immer wieder kommt es in Interviews mit Mitgliedern der Dorfgemeinde auch zu Victim Blaming, es seien ja auch Falschanschuldigungen aus der Vergangenheit bei ähnlichen Fällen bekannt und was habe das Mädchen überhaupt alleine auf einer Familienfeier zu suchen. Indem er diese verletzenden Aussagen offen zeigt, entlarvt To Kill a Tiger aus nächster Nähe weitreichende Strukturen, in denen (sexualisierte) Gewalt gegen Mädchen unsichtbar gemacht werden soll – beispielhaft am Dorfleben Jharkhands.
Der Schritt von Kirans Eltern, die Gewalttat zur Anzeige zu bringen, geht gegen diese „das haben wir doch aber schon immer so gemacht“-Haltung der Community deutlich vor. Regisseurin Pahuja bezeichnet Ranjit an anderer Stelle sogar als „Feminist“. So muss das Heraustreten aus den misogynen Einstellungen einer konservativen Kultur, wie der Film sie schildert, als politischer Akt gesehen werden. Gleichzeitig fordert der Kampf für Selbstbestimmung ein Durchhaltevermögen von Kiran und Ranjit, dass das eher unauffällige, abgeschiedene Leben der Bauernfamilie im Prekariat aus den Fugen wirft. Der Dokumentarfilm zeigt, wie in die privaten, eigentlich sicheren Räume der Familie eingedrungen wird: Beleidigungen, körperliche Bedrängungen und emotional zerstörerische Last bestimmen ihr Leben. Sicherheit erfährt sie schon lange nicht mehr, Schuld an den Umständen der Vergewaltigung suchen Kiran und Ranjit jeweils auch bei sich selbst.
Wie wenig das Private ein Raum der Sicherheit für die Familie ist, gipfelt in einer Szene, die nahezu wie ein inszeniertes Element wirkt: Die Mutter ist mit den Kindern alleine zu Hause, es kommt zu einem Gespräch mit der Nachbarin über den Rechtsfall, immer mehr Nachbarinnen stoßen dazu, Stimmen überschlagen sich. Die Mutter fordert, dass sich keine von ihnen einmischt, aber alles Bitten bleibt ungehört. Stumm und zusammengesackt sitzt die Mutter nur noch am Boden und lässt allen Lärm einfach über sich ergehen. Ein zentraler Moment, in dem der Horror, der das Leben der Familie bestimmt, spürbar wird und die Atmosphäre der Angst, Sorge und Gewalt, die den Dokumentarfilm bestimmt, auf den Punkt bringt.
Der Fokus auf einen männlichen Ally in einem Film, der sich mit sexualisierter Gewalt gegen Mädchen auseinandersetzt, sorgt auf den ersten Blick kurz für Momente des Befremdlichen. Dennoch beschreitet Pahujas Film so absichtlich beispielhafte Wege im Umgang mit Betroffenen. Nicht nur wurde der Name der zur Tatzeit minderjährigen Kiran geändert, auch der Entschluss, ihr Gesicht im Film zu zeigen, fiel erst nach Ende des Filmdrehs. Zunächst war eine Nachstellung von Interviews, in der eine Schauspielerin die Rolle der 13-jährigen übernehmen sollte, geplant. Mit Erreichen der Volljährigkeit war es Kiran schließlich möglich ihr Einverständnis zur Veröffentlichung der bei den Dreharbeiten entstandenen Aufnahmen zu geben. Weiterhin fordert die Regisseurin in einem eingeblendeten Text vor Beginn des Films, dass keine Bilder Kirans aus dem Film vervielfältigt werden.
So nimmt Pahuja sich selbst als Dokumentarfilmerin wie auch die Zuschauer*innen in die Pflicht, was sie in welchem Detail auf der Leinwand zeigen und sehen wollen und regt so zum Nachdenken über Opferschutz im Bereich des Dokumentarfilms an. Dass Pahuja schließlich Kiran die Vergewaltigung für die Zuschauer*innen schildern lässt, wirkt daher wie ein Rückschritt zu all diesen Maßnahmen des Schutzes, die die Dokumentarfilmerin zuvor unternommen hat. Ein Dilemma der dokumentarischen Form, dem auch To Kill a Tiger nicht entkommen kann.
Dennoch zeigt der Dokumentarfilm auf diese Weise letztendlich auch den klaren Zuspruch für ungehörte Stimmen gegen den Lärm aus Beleidigungen, Einschüchterung und Victim Blaming anzutreten. Denn sie werden gehört: Seit 2018, das Jahr, in dem Kirans Fall vor Gericht mit einer Verurteilung der Täter endete, steigen die Zahlen zu Verurteilungen in Vergewaltigungsfällen in Indien stetig an.
To Kill a Tiger war 2024 für den Oscar in der Kategorie „Bester Dokumentarfilm“ nominiert. Der Film ist seit dem 8. März 2024 bei Netflix zu sehen.
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