Berlinale 2025: The Ugly Stepsister
Bälle, Blut und Body-Horror – In ihrem Langfilmdebüt The Ugly Stepsister betrachtet die norwegische Regisseurin Emilie Blichfeldt das bekannte Märchen Aschenputtel aus Sicht der „hässlichen Stiefschwester“. Die Protagonistin Elvira (Lea Myren) zieht gemeinsam mit ihrer Mutter Rebekka (Ane Dahl Torp) und ihrer jüngeren Schwester Alma (Flo Fagerli) in das Königreich Svedlandia zu Rebekkas Verlobtem Otto (Ralph Carlsson) und dessen Tochter Agnes (Thea Sofie Loch Næss), dem späteren Aschenputtel. Als Otto kurz nach der Hochzeit stirbt und die Familie mittellos zurücklässt, fasst Rebecca einen Plan: Elvira soll den svedlandischen Thronfolger Prinz Julian (Isac Calmroth) auf einem Ball für sich gewinnen und die Familie durch die Hochzeit vor dem finanziellen Ruin retten. Elvira entspricht nicht den gesellschaftlichen Standards einer schönen und eleganten zukünftigen Prinzessin, doch Rebekka ist zu allem bereit, um ihre Tochter auf den Thron zu bringen.___STEADY_PAYWALL___
Mit The Ugly Stepsister hat Blichfeldt eine zynische, feministische Aschenputtel-Version geschaffen, in der der Traum von der royalen Romanze zum blutigen Kampf um männliche Anerkennung und die potenziell damit verbundene finanzielle Sicherheit wird. In romantischen Interpretationen des Märchens wie den Disney-Versionen steht der Sieg von Herzensgüte und „wahrer Liebe“ über Boshaftigkeit und Gier im Vordergrund. The Ugly Stepsister dagegen legt den Fokus auf ein brutales, patriarchales System, das junge Frauen zu Objekten degradiert, ungeachtet ihrer persönlichen Gefühle zur Ehe drängt und dabei als Konkurrentinnen gegeneinander ausspielt. Elvira selbst schwärmt zwar für (ihre romantisierte Wunschvorstellung von) Julian, doch für das Publikum zieht spätestens die erste Begegnung mit dem oberflächlichen und vulgären Prinzen ihr potenzielles Happy Ends in Zweifel. Obwohl der Weg zur Ehe buchstäblich von Blut, Schweiß und Tränen geprägt ist, könnten sich Elvira oder Agnes (die eigentlich den Stallburschen Isak (Malte Gårdinger) liebt) von Julian bestenfalls finanzielle Sicherheit, wohl aber keine wertschätzende Beziehung auf Augenhöhe erhoffen.

© Marcel Zyskind
So widmet Blichfeldt sich mit teils beißendem Humor den feministischen Schwachstellen in Aschenputtel: Warum steht die Ehe im Zentrum des Märchens, des Handels der Stiefmutter und Aschenputtels Happy Ends? Wie erstrebenswert kann es sein, sich an gesellschaftliche Normen anzupassen, um einem Mann zu gefallen, der seine Braut primär aufgrund von Oberflächlichkeiten auswählt? Durch die Einbeziehung einer politischen Ebene erhält die „böse Stiefschwester“ Elvira deutlich mehr Tiefe. Sie wird von einer sekundären Antagonistin zur Antiheldin, einem weiteren Opfer eines von misogynen Geschlechterbildern und ökonomischen Zwängen geprägten Systmes, ohne dass der Film dabei stattdessen ihre „Konkurrentin“ Agnes dämonisieren würde.
Der Body-Horror, der sich durch den gesamten Film zieht, treibt dabei die Brutalität des ursprünglichen Märchens schonungslos auf die Spitze. Blichfeldt setzt diese in direkten Zusammenhang mit unmöglichen Schönheitsidealen und dem von sexistischen Erwartungen geprägten Drang zur vermeintlichen optischen Selbstoptimierung. Blut ist in The Ugly Stepsister bei Weitem nicht nur im Schuh und es bleibt weder bei dieser Körperflüssigkeit noch dieser einen, aus dem Märchen bekannten „Schönheitsoperation“. Neben expliziten Horror-Szenarien, deren detailreiche Close-ups und intensive Soundkulisse so manch einer Person im Publikum den Magen umdrehen könnten, zieht sich vor allem eine beißende Ironie durch Blichfeldts Darstellung. So übernimmt mit Lea Myren eine normschöne junge Schauspielerin und Model die Hauptrolle und Elviras Bemühungen, „schön“ zu sein, verursachen letztendlich nur Schmerzen, entfernen sie sogar weiter von ihrem Schönheitsideal (z. B. durch vermutlich stressbedingten Haarausfall) und führen letztendlich weder zum gewünschten Erfolg noch zu persönlicher Zufriedenheit. Während das Schicksal der Stiefschwestern in Aschenputtel eine Strafe für deren Boshaftigkeit darstellt, ist es bei The Ugly Stepsister die Anklage eines Systems, das Frauen das Gefühl gibt, nie gut genug zu sein, und sie zum Äußersten treibt, um Männern zu gefallen.

© Marcel Zyskind
Doch Blichfeldts Bildsprache ist in dieser Hinsicht nicht immer konsequent oder effektiv. Wiederkehrende Aufnahmen von Ottos verwesendem Körper sorgen für einen zusätzlichen, inhaltlich aber wenig interessanten Ekelfaktor. Sexuelle Handlungen wiederum präsentiert der Film — primär durch die jeweils gewählte Perspektive einer außenstehenden Figur — als schockierend und unangemessen. Dabei rückt er auch selbstbestimmte weibliche Lust (z. B. Agnes’ für ihren Geliebten Isak) in ein negatives Licht. Auch der visuelle Umgang mit weiblichen Körpern ist nicht immer konsistent. Häufig nehmen Blichfeldt und Kameramann Marcel Zyskind bewusst die Perspektive unsympathischer, teils sexuell übergriffiger Figuren ein und karikieren dabei deren unmögliche Schönheitsideale, beispielsweise wenn der komödiantisch gespielte Schönheitschirurg Dr. Esthétque (Adam Lundgren) Elviras Nase für unzulänglich befindet. Eine Nahaufnahme von Anges‘ Anus, als Elvira ihre Stiefschwester beim Sex überrascht, wirkt dagegen eher unangenehm voyeuristisch. An anderer Stelle hadert Elvira mit ihrem Körperbild, empfindet sich an Bauch, Beinen und Po als zu dick. Die Kamera zoomt nah an ihren normschönen Körper heran, wie sie es sonst im Film primär bei ekligen oder schockierenden Bildern tut. So versucht der Film zwar, Elviras negatives Körperbild zu visualisieren, erweckt mit diesem Fokus auf ihren Körperbau aber auch den Eindruck, dicke Körper wären unattraktiv. An dieser Stelle propagiert der Film letztendlich selbst bestimmte Schönheitsideale.
Auf inhaltlicher und dramaturgischer Ebene bleibt Bilchfeldt ihrer feministischen Linie ebenfalls nicht immer treu. Der für eine konsequente Aschenputtel-Neuinterpretation so wichtige politische Kontext rückt mit der Zeit immer mehr in den Hintergrund von Rebekkas persönlicher Skrupellosigkeit. Während sie zu Beginn des Films als weiteres Opfer des Patriarchats erscheint, als nach Ottos Tod unbekannte Männer aus nicht genauer erklärten Gründen ihre Ländereien pfänden, fungiert sie danach primär als klassische, eindimensionale Märchenantagonistin. Ein Großteil der Gewalt, die ihrer Tochter widerfährt, geht direkt oder indirekt von ihr aus, von Bodyshaming über sexuelle Übergriffe bis hin zu Verstümmelung. Für Elviras Schmerzen scheint Rebekka keine Empathie zu haben; die Beziehung zwischen den beiden bleibt unterentwickelt. Rebekka selbst, die sich zu Beginn des Films noch in resigniertem Ton als „Frau mit hängenden Titten und zwei Töchtern“ bezeichnet und sich keine Hoffnungen auf einen Ehemann macht, hat anscheinend keine Schwierigkeiten, junge, reiche Männer zu verführen. Dies lässt weitere Zweifel an der Notwendigkeit von Elviras „Selbstoptimierung“ aufkommen und verstärkt den Eindruck, dass weniger unumgängliche gesellschaftliche Zwänge als Rebekkas persönliche Grausamkeit für Elviras Leid verantwortlich ist. Obwohl es natürlich richtig ist, dass auch Frauen sexistische Schönheitsideale perpetuieren, kommt die Einordnung dieses Phänomens in den größeren politischen Kontext patriarchaler Gewalt hier zu kurz.

© Lukasz Bak
Auch abseits der Mutter-Tochter-Dynamik fehlt es in The Ugly Stepsister leider an positiven Beziehungen unter Frauen und weiblicher Solidarität. Neben Agnes, die für Elvira eine Konkurrentin darstellt, sind auch die Lehrerinnen Fräulein von Kronenberg (Cecilia Forss) und Madam Vanja (Katarzyna Herman) Bestandteil von Elviras Geschichte. Diese leben anscheinend finanziell unabhängig, unverheiratet und in einer lesbischen Beziehung, gehen mit ihren Schülerinnen aber dennoch ebenfalls hart ins Gericht und eröffnen so für die Mädchen keine Alternativen zum patriarchalen Ideal der hübschen, braven Ehefrau. Einzig Alma repräsentiert einen möglichen alternativen Lebensentwurf und bietet eine positive Bezugsperson für Elvira, doch sie hat nur wenig Screentime und bleibt ebenfalls bis kurz vor Ende stark unterentwickelt. So prangert The Ugly Stepsister zwar zynisch und effektiv die Brutalität des Systems weiblicher „Selbstoptimierung“ unter dem männlichen Blick an, geht aber nur unzureichend auf dessen Hintergründe ein oder über das reine Anprangern bekannter Probleme hinaus.
The Ugly Stepsister läuft bei der Berlinale 2025 in der Sektion Panorama. Der deutsche Kinostart ist für den 5. Juni 2025 geplant.
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