Jung & Schön – Der Mythos der weiblichen Sexualität

© Weltkino

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Erinnert ihr euch noch an diese OB-Werbung: „Die Geschichte der Menstruation ist eine Geschichte voller Missverständnisse“? Manchmal frage ich mich, warum der weibliche Körper so ein Rätsel sein soll und der männliche immer so dargestellt wird, als könnte jede_r Fünfjährige ihn mit dem Legokasten zusammen bauen. Die Frau, das unbekannte Wesen. Noch unbekannter ist ihre Sexualität und dazu trägt das Kino erheblich bei, denn in den seltensten Fällen steht das erotische Erleben weiblicher Figuren im Mittelpunkt einer Geschichte (oder auch nur einer Sexszene).

Mit Jung & Schön von François Ozon hätte alles anders werden können. Naja, vielleicht nicht gleich alles, aber die Idee klang doch erst mal interessant. Ein junges Mädchen, das sich aus freien Stücken für die Prostitution entscheidet. Die Frage, ob sich Frauen tatsächlich freiwillig für Sex bezahlen lassen, ist ja eine viel Diskutierte. Alice Schwarzer beispielsweise – so meine ich sie neulich in einer Talkshow verstanden zu haben – ist grundsätzlich gegen Prostitution, weil diese immer eine Unterdrückung der Frau beinhalte bzw. bewirke. Dagegen wehren sich viele Sexarbeiterinnen, die ihren Beruf mit großer Freude ausüben.

Die Freude. Die Freude an der Sache. Dies ist genau der Punkt, an dem sich der folgende Text aufhängen wird. Denn was in Jung & Schön definitiv fehlt, ist die Freude. Protagonistin Isabelle (Marine Vacth) ist die klassische ätherische, melancholische Französin. Schlank, wunderschön und in sich gekehrt. Nach ihrem ersten, recht frustrierenden sexuellen Erlebnis kurz vor ihrem 17. Geburtstag, entscheidet sie sich, als Prostituierte zu arbeiten. Warum sie das tut, bleibt eigentlich bis zum Ende unklar. Geld spielt hier keine Rolle, denn ihre Mutter verdient gut und auch der Vater, der seit Jahren in Italien lebt, schickt zu Weihnachten und Geburtstagen großzügige Schecks. Natürlich wird eben jenes mal kurz als Erklärungsversuch herangezogen. Der Klassiker: Das arme verlassene Mädchen projiziert die Sehnsucht nach dem abwesenden Vater auf ältere Männer.

Einerseits scheint sich der Film über diese Erklärungsversuche des Psychiaters, der Isabelles „Störung“ untersuchen soll, lustig zu machen. Andererseits legt der Film stereotype Ursachen wie jene gleichzeitig nahe, da er uns keine Alternative anbietet. Isabelle wirkt stets so verschlossen, um nicht zu sagen depressiv, dass wir ihre erotischen Abenteuer bestenfalls als Bewältigungsstrategie, wenn nicht gar als Flucht begreifen müssen. Freude oder Lust empfindet sie bei ihren sexuellen Abenteuern nicht. Selbst als sie schließlich eine Beziehung zu einem gleichaltrigen jungen Mann aufnimmt, geht es beim Geschlechtsverkehr um seine Befriedigung und nicht die ihre. Ganz zum Schluss des Films artikuliert eine andere Frau die Überlegung, dass Prostitution durchaus eine gelebte sexuelle Fantasie darstellen könne. Das Traurige an Jung & Schön jedoch ist, dass Isabelles Taten niemals als solche erscheinen. Im sexuellen Akt ist sie unbeteiligt. Zwar begibt sie sich aktiv in die Position der Prostituierten, in der Begegnung mit ihren Kunden jedoch bleibt sie passiv. Weibliche Leidenschaft und sexuelles Begehren fehlen.

© Studiocanal

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Der Fokus auf das Erleben des Mannes hätte mich nicht verwundern sollen. François Ozon beginnt seinen Film mit einer Kameraeinstellung, die Isabelle durch das Objektiv eines Fernrohrs betrachtet. Sie ist nicht das Subjekt dieser Geschichte, sondern das Objekt. Und so kommt es auch, dass ihr nackter Körper stets im Fokus ist. Wir sehen nicht durch sie, sondern wir sehen auf sie. Ihr sexuelles Erleben, ihre Perspektive beim Sex – ganz einfach zu zeigen durch eine Kamerasubjektive – bleibt uns vorenthalten.

Manchen mag die mysteriöse Aura gefallen, die François Ozon hierdurch um seine Hauptfigur konstruiert. Das rätselhafte Verhalten geschlechtsreifer Frauen in der Pubertät. Die Adoleszenzkrise selbst ist überzeugend. Isabelle liefert sich anhaltend Grabenkämpfe mit ihrer Mutter, versucht sich krampfhaft von der elterlichen Fürsorge abzugrenzen und findet grundsätzlich alles langweilig, was eine Person über 40 vorschlägt. Ihre sexuelle Entwicklung bleibt jedoch auf unangenehme Weise schleierhaft. Selbst wenn wir also über die stümperhaften Versuche des Psychologen schmunzeln, Isabelles neuen Nebenjob zu ergründen, so sind wir doch keinen Deut besser. Ob sie wohl dieses unromantische Erste Mal derart traumatisiert hat, dass sie fortan keinerlei Lust mehr empfinden möchte oder kann? Dafür spricht der dissoziative Moment, indem sie sich selbst bei eben diesem Erlebnis beobachtet; eine Abspaltung eines Persönlichkeitsanteils, die oft im Zusammenhang mit Vergewaltigungen oder ähnlich traumatischen Erlebnissen geschieht. Und tatsächlich wirkt Isabelles sexuelles Erlebnis mit dem deutschen Urlaubsflirt Felix (Lucas Prisor) eher erzwungen. Während sie mit steinerner Miene am Boden liegt, arbeitet er genügsam an seiner Befriedigung. Kein Blick zu ihr, kein liebes Wort. Ein Vorspiel hat selbstredend ebenso wenig stattgefunden. Auch wenn in diesem Moment das Verhalten des Mannes rücksichtslos erscheint, ist es überraschenderweise im Nachgang Isabelle, die als „merkwürdig“ deklariert wird, da sie Lucas trotz seines anhaltenden Interesses an ihrer Person auf Abstand hält. Was eine normale Reaktion auf eine ganz offensichtlich abusive sexuelle Erfahrung sein könnte, erzählt Ozon als pathologisches Verhalten.

© Studiocanal

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Und so ist Jung & Schön in meinen Augen kein sexpositiver Film. Isabelle gibt uns keinen Grund anzunehmen, sie würde die sexuellen Erfahrungen genießen. In dem Moment, in dem der Film behauptet, sie würde sich trotzdem aus freien Stücken prostituieren, weil es ihr „gefalle“ (was auch immer das bedeuten mag), ziehen wir gleichzeitig in Betracht, Frauen würden Sex unabhängig von ihrer eigenen Lust als befriedigend erfahren. Und das wiederum stärkt all die „Du willst es doch auch“-Argumente, die ein fehlendes „nein“ als ein „ja“ werten.

Vielleicht übertreibe ich hier ein wenig. Vielleicht aber auch nicht. Ich jedenfalls hätte mir gewünscht, einen Film über eine Frau zu sehen, die selbstbewusst, mit Leidenschaft und Freude sexuelle Erfahrungen abseits der gesellschaftlich legitimierten Wege sammelt. Denn ich persönlich glaube daran, dass Prostitution nicht grundsätzlich dazu führt, Frauen zu Sexobjekten zu degradieren. Ich glaube sehr wohl, dass hierin auch Freude, erotische Fantasie und vieles mehr zu finden ist. Ich glaube, dass die weibliche Sexualität in Wahrheit gar nicht so mysteriös ist wie sie uns dargestellt wird, sondern dass es eine Symptom der patriarchal geprägten Gesellschaft ist, ihr diese Aura zu verleihen und sie damit in fantastische oder pathologische Sphären zu verschieben. Jung & Schön reiht sich hier ein und kann somit meiner Meinung nach keine Aufklärung oder Entmystifizierung leisten.

Kinostart: 14.11.2013

Sophie Charlotte Rieger
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