IFFF 2022: Kevin

Mit der gebotenen Vorsicht beschneidet eine Frau einen hoch gewachsenen Kaktus in ihrer Wohnung, um den Setzling schließlich in ein eigenes Gefäß umzutopfen. Es ist Joana Oliveira, Regisseurin dieses Dokumentarfilms, die hier vor der statischen Kamera in Aktion tritt. Was diese Bilder mit Kevin, der titelgebenden Freundin von Oliveira, zu tun haben, begleitet uns als Frage auf dem Weg durch den folgenden Film.

Dieser Weg beginnt in Brasilien, wo Joana mit ihrem Ehemann und einer großen Portion Trauer lebt. Die ruhigen Bilder des Alltags von Oliveira transportieren eine Schwere, um nicht zu sagen Depression, die – so merken wir umgehend – nicht nur mit der Krebserkrankung ihres Vaters zusammenhängen. Ein Anruf von Kevin reißt Joana aus ihrem Alltag und sie folgt deren Einladung nach Uganda, wo die alleinerziehende Mutter von drei Kindern inzwischen lebt. Kennengelernt haben sich die beiden Frauen in Deutschland, danach trennten sich ihre Wege nicht nur geografisch, sondern auch biografisch. Bei ihrem Wiedersehen in Uganda schwelgen sie in Erinnerungen und verhandeln die großen Themen weiblichen Lebens, die in der Bildungsschicht aller drei Kulturen – der deutschen, brasilianischen und ugandischen – irgendwie dieselben sind: Geschlechternormen, Mutterschaft und Körperbilder ebenso wie berufliche Selbstverwirklichung.

© Cristina Maure

Joana Oliveira stellt ihre Beziehung zu Kevin inhaltlich wie auch auf der Bildebene in den Fokus ihres Films. Andere Personen kommen und gehen, ohne jemals als Individuen Bedeutung zu entfalten. Joanas Ehemann, Kevins Kinder, ihre Mutter, der Schwiegervater – all diese Personen tauchen nur am Rande auf, bilden nur den Rahmen der hier zentralen Beziehung zweier Frauen. Auch Uganda ist vor allem der Hintergrund dieser Geschichte. Statt ein exotisierendes Bild des fremden Landes zu zeichnen, das die weiße Regisseurin hier erstmalig besucht, ist Oliveiras Bildauswahl im Alltag verhaftet, während sie auf der Dialogebene mit Kevin kolonialismus- und rassismuskritische Gespräche führt.

Dabei ist sich Oliveira ihrer Position als weiße Touristin wohl bewusst. So sehr sie sich auch sichtbar gegen diese Rolle sträubt, sich gerne von anderen Tourist:innen abgrenzt, so deutlich macht die Montage von Clarissa Campolina, dass die Filmemacherin genau das ist: eine Touristin. Immer wieder zeigen Sequenzen im ugandischen Alltag Joana als ahnungslosen oder verunsicherten Fremdkörper, beispielsweise wenn sie in einer fast komödiantischen Szene in einem Gemischtwarenladen versehentlich ein Ausstellungsobjekt nach dem anderen umwirft.

Es ist diese Ehrlichkeit mit sich selbst, die an Oliveiras Dokumentarfilm beeindruckt und Nähe zur Künstlerin und Protagonistin schafft. Und diese Nähe wiederum bildet die Basis dafür, dass wir als Zuschauer:innen – über Joanas innige Liebe zu ihrer Freundin – auch eine Beziehung zu Kevin eingehen können. Dieser mit Energie und Optimismus beeindruckenden dreifachen Mutter, die darauf beharrt, ihre einstigen beruflichen Ziele seien mitnichten aufgehoben, sondern schlichtweg aufgeschoben. Immer wieder gehen die beiden Frauen über das Thema Mutterschaft ins Gespräch: Was bedeutet sie für die eigene Biografie? Für den Körper? Verändert sie das Leben grundsätzlich oder erhält es nur eine neue Richtung? Während Kevin davon überzeugt ist, dass sie noch immer alle Möglichkeiten und lediglich ein anderes Tempo habe, verarbeitet Joana neben einer Fehlgeburt auch die grundsätzliche Frage, ob Kinder zu ihrem Leben gehören sollen.

Die lebenslustige Kevin gibt nicht nur Joana neue Energie, sie vermag auch das Publikum dieses Films zu beflügeln, ohne dabei auf die Trope des “funny black best friend” reduziert zu sein. Stattdessen erleben wir an der Seite der zweifelnden und in sich gekehrten Joana Oliveira mit Kevin Adweko eine emanzipierte Frau im besten Sinne, der es nicht genug ist, als dreifach Alleinerziehende abends todmüde ins Bett zu fallen, und deren Energie Ausdruck einer kämpferischen wie auch positiven Lebenseinstellung ist. Eine Person, die mehr will, ohne am Status Quo zu verzweifeln, die einerseits mit großer Geduld auf eine selbstbestimmtere Zukunft, andererseits mit einem ungekannt fröhlichen Pragmatismus auf ihr Hier und Heute blickt. Die mit ihrem Undercut und den langen Zöpfen souverän den schmalen Grat zwischen der gesellschaftlichen Erwartung langer Haare und individuellem Selbstbild beschreitet.

© Cristina Maure

Dennoch stellt sich hier natürlich die Frage, ob Joanas Perspektive – trotz aller Ehrlichkeit mit sich selbst und dem kritischen Blick auf ihre Position als Touristin in Uganda, die sie mit Kevin auch auf der Dialogebene verhandelt – nicht doch ein ausnehmend weißer bleibt. Einerseits gelingt es Oliveira Kolonialismus und Rassismus zu thematisieren, ohne sich davon reinzuwaschen. Andererseits bleibt sie insofern die primäre Protagonistin dieses Films als dass es ihre Entwicklung ist, die er erzählt, während Kevins Biografie vor allem dazu dient, diesen Prozess anzustoßen, ohne eine eigene Veränderung zu erfahren – Kevin verlässt den Film, so wie sie ihn betreten hat: als Inspiration für Oliveira und für uns. Auch wenn es der Regisseurin eindeutig um das Thema Freundinnenschaft als zentrale Thematik ihres Films geht und ihre Liebe und ihre Respekt für Kevin in jeder Minute spürbar sind, erzählt sie letztlich von sich, von ihrer Bewältigung eines Traumas durch die Freundinnenschaft mit Kevin. Würde es sich um zwei weiße oder zwei Schwarze Frauen handeln, würde dies weniger ins Gewicht fallen und lediglich eine dramaturgische Entscheidung darstellen. In einer von Rassismus und (Post)Kolonialismus geprägten (Kunst)Welt aber hinterlässt diese weiße Perspektive auf eine Schwarze Figur leider einen bitteren Beigeschmack.

Kevin endet damit, dass die Titelfigur ihrer Freundin Joana die langen Haare abschneidet. Vielleicht weil sich auch Joana von externen Erwartungen lösen will. Vielleicht von jener, Kinder haben zu müssen. Vielleicht nur von jener, einem standardisierten Körperbild zu entsprechen. Wir wissen es nicht. Aber wir fühlen uns an den Anfang erinnert, an den Kaktus und seinen Setzling. Und begreifen: Veränderungen, Neuanfänge gehören zum Leben dazu. Wir erfinden uns neu, wir gebären neue Menschen – manchmal auch uns selbst. Doch Veränderungen brauchen auch Sensibilität, Vorsicht und Einfühlsamkeit. Auch wir sind Kakteen. Wir können nur Setzlinge hervorbringen, uns nur transformieren, wenn wir sanfte Berührung erfahren. Durch Worte, durch Taten, durch Freund:innenschaft.

 

 

Die Arbeit an diesem Artikel wurde gefördert durch

Sophie Charlotte Rieger
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