Frischer Wind im Kongress
Lea Gronenberg
Alexandria Ocasio-Cortez zog im Januar 2019 als jüngste Abgeordnete in das Repräsentantenhaus der Vereinigten Staaten ein. Sie setzte sich als Kandidatin der Demokraten für den 14. New Yorker Wahlbezirk gegen den langjährigen und einflussreichen Mandatsinhaber Joe Crowley durch. Die Netflix-Doku Frischer Wind im Kongress begleitete sie und drei weitere Kandidatinnen bei den Vorwahlen der demokratischen Partei.
Zu den Midterms, bei denen zwei Jahre nach der Präsidentschaftswahl die Mitglieder des Kongresses und die Hälfte der Senator_innen neu gewählt werden, forderten überall in den USA junge, nicht-weiße Kandidat*innen die etablierten alten weißen Männer* heraus. Dabei bestanden sie auf einen basisdemokratischen Aufstellungsprozess und verzichteten zudem auf Konzernspenden. Sie wollten nicht einfach Aufmerksamkeit auf sich lenken oder die Kandidat*innen auf einen linken Kurs bringen. Sie wollten gewinnen. Die Energie und die Aufbruchsstimmung der unkonventionellen Kandidat*innen und ihrer Unterstützer*innen, die Rachel Lears in ihrem Film einfängt, sind ansteckend.
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Der Dokumentarfilm geht den individuellen und teils sehr persönlichen Gründen von Alexandria Ocasio-Cortez, Paula Jean Swearengin, Cori Bush und Amy Vilela nach, für ein politisches Amt zu kandidieren. Die öko-soziale Aktivistin Paula Jean Swearengin kämpft gegen die Dominanz der Kohleindustrie in West Virginia. Cori Bush wurde vor allem durch rassistische Polizeigewalt und die anhaltenden Proteste in Ferguson (Missouri) politisiert. Amy Vilela verlor ihre Tochter, weil diese aufgrund eines fehlenden Versicherungsnachweises im Krankenhaus keine ausreichende Behandlung erhielt. Die Wirtschaftskrise traf die Familie von Alexandria Ocasio-Cortez hart. Familienfotos von Amy Vilela, Heimvideos aus der Kindheit von Alexandria Ocasio-Cortez und Aufnahmen der Ausschreitungen in Ferguson unterstreichen die Erzählungen.
Regisseurin Rachel Lears lässt die Kandidatinnen selbst zu Wort kommen, sie folgt ihnen zu Versammlungen und öffentlichen Auftritten und lässt sich die jeweiligen Wahlbezirke von ihnen zeigen. Dabei wird deutlich, wie eng alle vier mit der örtlichen Bevölkerung verbunden und wie engagiert sie in ihren Communities sind.
Darüber hinaus gewähren die Kandidatinnen der Filmemacherin Einblicke in ihr Privatleben. Sie zeigen sich verletzlich und brechen mit der sexistischen Dichotomie zwischen Emotionalität und Sachlichkeit, dem Privaten und Politischen. Frischer Wind im Kongress präsentiert nicht nur einen neuen Typ von Politiker_in, sondern knüpft hier an feministische Debatten an, die die Trennung zwischen privatem und öffentlichem Raum überwinden wollen.
Die Einblicke in den Grasswurzelwahlkampf sind weit entfernt von den Hochglanzinszenierungen, die man aus dem US-Wahlkampf gewöhnt ist. Die Aufnahmen von Wahlkämpfer*innen, die in winzigen Büros oder Cafés mit Laptops und Telefonen oder an den Haustüren um Unterstützung für ihre Kandidatin werben, sind geradezu ernüchternd. Die Wahlkampfreden werden nicht auf großen Bühnen von tausenden Unterstützer_innen mit Hochhalteschildern und Klatschpappen bejubelt, sondern finden in der Aula einer örtlichen Schule oder einem Kongresshotel vor nicht mal einhundert Bürger_innen statt.
Rachel Lears zeigt die Herausforderungen und auch die Enttäuschungen der basisdemokratischen Aufstellungskampagne. Ganz im Sinne dieser Bewegung innerhalb der demokratischen Partei stilisiert sie die Kandidatinnen nicht zu Heldinnen, sondern zeigt sie als Vertreterinnen ihrer Community, als Identifikationsfiguren für ganz unterschiedliche Frauen*.
Jede Frau*, die sich bereits öffentlich politisch geäußert hat, kann die Erfahrungen der vier Kandidatinnen nachvollziehen. Alexandria Ocasio-Cortez beispielsweise reflektiert darüber, dass ihre Stimme zu hoch klinge, wenn sie besonders freundlich sein möchte, oder dass ihr Gegenkandidat sie unabhängig von ihrer Vorbereitung und ihrem Können als zu unerfahren und naiv darstellen wird.
Doch Alexandria Ocasio-Cortez hat nicht aufgegeben. Sie und viele andere Kandidat_innen haben gezeigt, dass es sich lohnt zu kämpfen, einzufordern gehört zu werden und rebellisch zu bleiben. Während die USA von einem Rassisten und Sexisten regiert werden, ist der Kongress so divers besetzt wie noch nie. Vertreter_innen der demokratischen Partei formulieren progressive Forderungen, die noch vor wenigen Jahren als sozialistisch verdammt und niemals ernsthaft diskutiert worden wären.
Vor dem Hintergrund dieses Erfolgs kommt Frischer Wind im Kongress doch nicht ganz ohne Pathos aus und untermalt Alexandria Ocasio-Cortez’ Triumph bei den Vorwahlen mit dem Folk-Song This land is your land. Auch wenn es sehr amerikanisch und ein wenig kitschig ist, berührt das Lied die Frage von Repräsentation. Was verändert sich, wenn eine junge, hispanische Frau* ihre Community und ihren Bezirk selbst im Kongress vertritt? Der Dokumentarfilm kann und will diese Frage nicht beantworten, ermutigt aber dazu, für die eigenen Interessen einzutreten und die politische Macht nicht alten weißen Männern* zu überlassen.
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