DOK.fest München 2024: Zwischen uns Gott

In Zwischen uns Gott kehrt Regisseurin Rebecca Hirneise an ihren Geburtsort, das schwäbische Mühlacker, zurück. Die Regisseurin zeichnet ihre Heimat als idyllisch, ruhig und von einem für das Bundesland Baden-Württemberg typischen Kleinstadtcharakter geprägt. Vor 15 Jahren verlässt Hirneise diesen Ort, in dieser Zeit ist eine Distanz zu ihrer erweiterten Familie mütterlicherseits entstanden. Als aufgrund der Demenzerkrankung von Oma und Opa die Familienmitglieder wieder näher zusammenrücken, wagt Hirneise eine filmische Annäherung an den Grund des Familienkonflikts: Die streng protestantische Erziehung der Großeltern, die auf die Leben ihrer Kinder, Schwieger- und Enkelkinder heute noch unterschiedlich Einfluss nimmt. 

Die Regisseurin, die sich selbst als Agnostikerin bezeichnet, versammelt für Zwischen uns Gott ihre Mutter Birgit, Birgits Geschwister und deren Ehepartner*innen für gemeinsame Gespräche über das (Er-)Leben von Glauben im Hier und Jetzt. Dabei enthüllen die unterschiedlichen Auslegungen von Religion und christlichem Glauben tiefe Zerwürfnisse zwischen Atheist*innen und bibeltreuen Gläubigen, zwischen Gottesfürchtigen und Wunderheiler*innen. Hirneise wählt dieses Beisammensein als Fokus ihres Dokumentarfilms nicht, um selbst gläubig zu werden, sondern um Onkel und Tanten näherzukommen. Warum ist für manche Glauben so lebensbestimmend? Warum für andere so schmerzhaft?___STEADY_PAYWALL___

© Ruth Beckermann Filmproduktion

In Gesprächsrunden ergänzt durch Einzelinterviews werden die Einschränkungen deutlich, die die insgesamt 5 Kinder durch die im intensiven christlichen Glauben begründete Strenge der Großeltern erfahren mussten: sie durften nicht ins Kino oder in den Tanzkurs, Vereinsmitgliedschaften in weltlichen Clubs waren nicht erlaubt. Während Tante Conny erst als Erwachsene diese Verbote einordnen kann, erinnert sich Tante Evmarie an ihre Jugend als eine „verlorene Zeit“. Verbote, die die Kindheit bestimmten, setzen sich im Erwachsenenalter fort: Als Birgit sich scheiden lässt, wird sie von der Großmutter verstoßen, Tante Conny wird von der Behandlung ihrer Depression durch medizinische Hilfe abgeraten und hingegen die Geistheilung im Rahmen eines Gottesdienstes empfohlen.

Da Hirneise alle Familienmitglieder gleichsam in Zwischen uns Gott zu Wort kommen lässt, stehen diese schmerzvollen Erfahrungen von Einengung und Angst, die vor allem die heute atheistische Birgit laut benennt, neben der Wahrnehmung von protestantischem Glauben als unbedingte Grundlage für ein gutes Leben. Es ist besonders Hirneises Doppelrolle als Filmemacherin und Familienmitglied, die Zuschauer*innen ein ungewöhnlich offenes Erfahren des individuellen Glaubens ermöglicht. Das Familiäre zwischen Dokumentarfilmerin und Interviewten lässt es zu, dass diese frei sprechen, intensive Reaktionen gegenüber verschiedenen Auslegungen von bibeltreuem Glauben zeigen und auch mal die sonst eher im Privaten ausgetragenen Konflikte in der Ehe vor der Kamera verhandeln. 

© DOK.fest München 2024

Der von Ruth Beckermann produzierte Debütfilm wird auch durch Tilmann Rödigers Kameraarbeit geformt. Nahaufnahmen von Gesichtern im Laufe der emotionalen Gespräche innerhalb der Familie geben den einzelnen Personen Raum, während kurze Szenen mit Hirneise zwischen Interviews eine gedrückte Stimmung einfangen. Ständig wiederkehrende Bilder der Straßen Mühlackers zeigen die Ruhe des Ortes und werden von einem Voice-Over der Regisseurin begleitet. In diesem Rahmen teilt Hirneise Notizen, die im Laufe der Dreharbeiten entstanden sind und auch durch die Geschehnisse abseits der Kamera leiten. So erfährt das Publikum z. B. aus einem dieser Voice-Over, dass Mutter Birgit und Tante Evmarie die Gespräche im Familienkreis abgebrochen haben, da diese emotional zu schwer lasten. 

Zuletzt wird das Familienporträt noch mit Bildmaterial aus dem Archiv abgerundet. Der Großvater selbst war, entgegen seiner Ablehnung eines weltlichen Kinos, begeisterter Heimvideofilmer. Seine Aufnahmen der eigenen Kinder in christlichen Jugendcamps, bei Wanderungen und im Familienkreis nutzt Hirneise, um in die Vergangenheit der Erwachsenen, die ihr heute gegenübersitzen, zu blicken. Da die Demenzerkrankung beide Großeltern die Religion in großen Teilen hat vergessen lassen, können auch sie nur noch durch diese Aufnahmen Einblicke in ihr durch strengen Glauben geprägtes Leben geben.

© Ruth Beckermann Filmproduktion

Durch eine umfangreiche Sammlung von Gesprächen und Erinnerungen schafft Hirneise in Zwischen uns Gott ein Bild, in dem sich Zerwürfnisse nicht nur zwischen Gläubigen und NichtGläubigen, sondern auch unter den religiösen Familienmitgliedern selbst hervortun. Durch unterschiedliche Interpretationen von bedingungsloser Bibeltreue ist über die Jahre hinweg ebenso zwischen ihnen Zwist entstanden. Es ist diese Uneinigkeit, die die Familie gemeinsam hat. Es ist aber auch diese Uneinigkeit, die es Hirneise nicht erlaubt in ihrer filmischen Annäherung zu einem finalen Fazit zu kommen, wie über Religion zu sprechen ist, ohne dass Konflikte entstehen. So zeigt die Familie in ihrer Uneinigkeit, dass Glaube keine homogene Auslegung hat, sondern sehr viel Raum für Streit um Erfahrungen einer höheren Macht als gnädig wie auch als ewig bestrafend bietet.

Zwischen uns Gott ist im Online-Programm des DOK.fest München 2024 zu sehen.

Sabrina Vetter