Blau ist eine warme Farbe und der Blick auf das Andere

© Alamode

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Es ist schwierig, eine eigene Meinung zu einem Film zu entwickeln, über den so viel gesprochen wurde wie La vie d’Adèle oder auch Blau ist eine warme Farbe, wie er hierzulande heißt. Ich habe mir die größte Mühe gegeben, möglichst unvoreingenommen zu sein und im Vorhinein weder Kritiken noch sonstige Artikel über den diesjährigen Cannes-Gewinner zu lesen. Ich weiß nicht, ob es an dieser etwas erzwungenen Zurückhaltung oder am Film selbst liegt, dass ich nun nach der Sichtung nicht ganz in den allgemeinen Beifall mit einstimmen kann. Da ist doch zu viel, über das ich mir selbst uneinig bin, wie beispielsweise zu viel ausgestellter weiblicher Körper und zu wenig Richtung.

Aber ich möchte von vorne beginnen, ganz traditionell mit einer inhaltlichen Beschreibung. Inspiriert durch einen Comic von Julie Maroh erzählt Regisseur und Drehbuchautor Abdellatif Kechiche die Geschichte einer jungen Frau und der Entwicklung ihrer sexuellen Identität. In der elften Klasse bemerkt Adèle (Adèle Exarchopoulos), dass sie sich zu Frauen stärker als zu Männern hingezogen fühlt. Doch es ist die Bekanntschaft mit Emma (Léa Seydoux), die es ihr ermöglicht, diese Gefühle auszuleben. Die beiden beginnen eine innige Beziehung, die schließlich unter den klassischen Alltagsproblemen zu leiden beginnt. Blau ist eine warme Farbe will jedoch kein Film über eine lesbische Liebe, sondern über das Leben einer jungen Frau sein. Nicht umsonst heißt der Film im Original La via d’Adèle – das Leben von Adèle. Und so geht es nicht nur um die Beziehung zwischen Adèle und Emma, sondern um den Lebensweg der ersteren von der Schule bis in den Beruf.

Mittendrin statt nur dabei

Vieles an Blau ist eine warme Farbe ist ungewöhnlich, so auch die Dramaturgie. Es fehlt eine klare Richtung, eine Agenda der Hauptfigur. Der Film beobachtet seine Heldin eher als dass er sie inszeniert. Die Kamera von Sofian El Fani ist den Figuren stets unfassbar nah und beschränkt sich oft auf ihre Gesichter. Die Szenen sind überaus lang und dialoglastig. Und trotzdem ist Blau ist eine warme Farbe kein talking heads Kino. Die Figuren erzählen ihre Geschichte nicht, sie leben sie. Das Faszinierende an Abdellatif Kechiches Inszenierung ist der große Naturalismus, das Gefühl, all das würde wirklich geschehen und wir stünden zufällig gerade in der Nähe, um es zu beobachten. Von der Sogwirkung dieser Inszenierung sind wir derart eingenommen, dass uns in den ersten 60 Minuten gar nicht auffällt, dass die Handlung nur wenig Fahrt aufnimmt, ruhig vor sich hin plätschert wie ein Bergbach und wir im Grunde gar nicht wissen, um was es hier eigentlich geht. Es ist einfach nicht wichtig, wohin dieser Bach fließt. Wir wollen einfach nur dabei zusehen.

Es kommt jedoch der Punkt, an dem dieses Konzept nicht mehr trägt. Im letzten Drittel konnte Blau ist eine warme Farbe sich meine ungeteilte Aufmerksamkeit nicht mehr erspielen. Sobald die Beziehung zwischen Adéle und Emma in den Hintergrund tritt und sich die Handlung wieder stärker auf die Figur Adéle und ihre persönliche Entwicklung konzentriert, verliert der Film an Kraft. Blau ist eine warme Farbe ist dann am stärksten, wenn wir der Interaktion von Adèle Exarchopoulos und Léa Seydoux zusehen dürfen.

Diese Interaktionen sind mannigfach und haben doch eins gemeinsam: ihre Intensität. Indem Abdellatif Kechiche Situationen ausspielen lässt, statt sie nur anzudeuten, lässt er die Ereignisse real werden, als sähen wir sie nicht auf der Kinoleinwand, sondern durch ein großes Fenster. Selbst ausführliche Dialoge werden dabei nicht langweilig, weil sie durch die Energie der beiden großartigen Schauspielerinnen gespeist werden. Und ebenso geduldig, wie Kechiche scheinbar beliebige Gespräche verfolgt, zeigt er auch erbitterte Streitigkeiten und die damit verbundene Verzweiflung. Die Intensität dieser Szenen ist berauschend und berührt uns auf eine ganz andere Weise als melodramatisch inszeniertes Hollywoodkino. In glücklichen Momenten der Protagonistinnen bemerken wir plötzlich ein Lächeln auf unseren Lippen, in tragischen Momenten eine gerunzelte Stirn, vielleicht einen Kloß im Hals.

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Der männliche Blick auf die lesbische Frau

Es gibt noch eine weitere Form der Interaktion, die Abdellatif Kechiche ausgiebig betrachtet und über die bereits ausführlich geschrieben wurde (auch diese Artikel spare ich mir jedoch auf, bis ich meine eigene Position dazu artikuliert habe). Es sind die lesbischen Sexszenen, die für positiven und negativen Aufruhr sorgten. Auch die Illusion von Realismus dieser Sequenzen entsteht durch ihre Länge und Direktheit. So etwas habe zumindest ich im Kino noch nicht gesehen. Die verschlungenen Körper, das Stöhnen, die Lust  – all das wirkt unfassbar authentisch. Und fremd. Fremd insofern, als dass wir diese Bilder weder in ihrer Intensität noch in Hinblick auf das was sie zeigen bislang im Kino gesehen haben. Und so sehr ich die Momente von Intimität auf der Leinwand auch genossen habe, machte sich doch ein Gefühl kalkulierten Skandals in mir breit. Wie bereits gesagt: Die Sequenzen entsprechen dem Gesamtkonzept, sie sind nicht künstlich in die Länge gezogen. Es steht jedoch außer Frage, dass der weibliche Körper hier ausgestellt wird: „Schaut her, all die, die ihr in heterosexuellen Beziehungen die Missionarsstellung praktiziert: So sieht lesbischer Sex aus!“ – „Ah, oh, hm, ach ja! Wie interessant!“ spricht di_er Außenstehende beim Blick auf „das Andere“.

Ich bin mir nicht sicher, ob Abdellatif Kechiche diesen Effekt hätte vermeiden können. Seine Darstellung der körperlichen Beziehung von Adèle und Emma ist integraler Bestandteil seines ästhetischen und inhaltlichen Konzepts. Möchte eins eine Kritik daran formulieren, und ich bin mir nicht sicher, ob ich das überhaupt möchte, sollte sie sich vermutlich nicht an den Regisseur, sondern an sein Publikum wenden. Aber auch das kann eigentlich nichts dafür, dass es Bilder dieser Art bislang nicht, oder aber sehr selten, im Kino gesehen hat. Übrigens kenne ich auch keine vergleichbare heterosexuelle Szene, was mich zu der Vermutung führt, dass es unsere vollkommen verdrehte Art und Weise ist, wie wir Sex in seiner medialen Darstellung verdrehen und normieren, die Blau ist eine warme Farbe letztlich so „skandalös“ erscheinen lässt.

Es ist jedoch nicht nur unsere Sozialisation, sondern auch Abdellatif Kechiche selbst, der einen voyeuristischen Blick kreiert. Der weibliche Körper ist der, den wir hier betrachten und zwar nicht, weil dies die Perspektive der weiblichen Hauptfigur wäre, sondern weil es das ist, was Herr Kechiche gerne sieht. Zu wohlgeformt sind die Hintern und Brüste, zu gerne hält sich Kechiche daran auf, selbst wenn Adèle, durch deren Augen wir eigentlich blicken sollten, nackt in die Dusche steigt. Die schier unerträgliche Wiederholung von Szenen, in denen Adèle lasziv mit offenem Mund kaut, entwickelt zunehmend eine unangenehme Obszönität. In einem Interview sagte Kechiche, dass es eben diese Art zu Essen gewesen sei, die ihn beim Casting von Adèle Exarchopolous überzeugt habeAuch abseits der Mahlzeiten ist Adèles offener Mund stets im Fokus. Doch diese Öffnung, die permanent dazu einlädt, etwas in sie hineinzustecken, ist nicht Teil der lesbischen, sondern der heterosexuellen Sexualität und sie gehört zum Blick eines Mannes, nicht aber dem einer Frau. Emma sagt dies schließlich selbst, als sie Adèle eine Affäre mit einem Kollegen unterstellt und der größte Betrug darin zu bestehen scheint, dass sie sie mit demselben Mund küsse, in dem zuvor noch ein Penis gesteckt hätte. Die Faszination der Kamera mit Adèles stets leicht geöffnetem Mund erinnert uns daran, dass das was wir hier sehen letztlich eben doch der Blick des Subjekts Mann auf das Objekt Frau ist.

All diesen Überlegungen zum Trotz gehört Blau ist eine warme Farbe mit Sicherheit zu den besten Filmen des Jahres. Abdellatif Kechiches Inszenierung, die Nähe zu den Figuren und die Authentizität der Darstellung, ist atemberaubend. Die beiden Schauspielerinnen sind jede auf ihre Weise außergewöhnlich. Während Adèle Exarchopolous durch die Emotionalität der Figur mehr Möglichkeiten hat, ihre Fähigkeiten unter Beweis zu stellen, überrascht Léa Seydoux mit einer ganz neuen Facette ihres Rollenrepertoires. Dramaturgisch jedoch hat mich die Erzählung weniger überzeugt. Der französische Name des Films trägt den Untertitel „chapitre 1 & 2“ und leider ist es Abdellatif Kechiche nicht gelungen, meine Neugier auf das nächste Kapitel zu wecken.

Kinostart: 19. Dezember 2013

Sophie Charlotte Rieger
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