Anatomie eines Falls

Wie verstehen wir einander? Können wir einander jemals wirklich sehen, uns erkennen, begreifen? Und ist Nähe die Voraussetzung dafür oder eine Hürde? In ihrem Film Anatomie eines Falls ist Regisseurin Justine Triet ihrer Hauptfigur Sandra (Sandra Hüller) unheimlich nah. Close-Ups füllen die ganze Kinoleinwand mit dem Gesicht der Hauptdarstellerin, ja, zuweilen in extremen Nahaufnahmen gar nur mit Teilen desselben. Hüller dominiert diesen Film mit ihrer Präsenz, kein Zweifel, dass ihre Figur das Zentrum der Geschichte ist. Viel mehr  Nähe kann ein Film zu seiner Hauptfigur nicht haben. Und doch: Können wir sie jemals wirklich sehen?

Filmstill aus der Vogelperspektive: Ein männlicher Körper liegt im Schnee auf dem Rücken, um seinen Kopf eine Blutlache. Daneben eine blonde Person, die auf ihn blickt. In ihrem Arm hält sie eine kleinere Person.

© LesFilmsPelleas/LesFilmsDePierre

Als Publikum sind wir 150 Minuten lang bemüht, Sandra zu ergründen, denn wir wollen herausfinden, ob die Schriftstellerin ihren Mann ermordet hat. Gleich zu Beginn des Films wird dieser vom gemeinsamen Sohn Daniel (Milo Machado Graner) vor dem Haus der Familie tot im Schnee aufgefunden. Fortan entspinnt sich zunächst ein kriminalistischer Plot, dann ein Gerichtsdrama über die Frage, ob Samuel (Samuel Theis) sich das Leben genommen hat oder von seiner Ehefrau getötet wurde. Im Gerichtsverfahren rollt sich Stück für Stück das Drama zweier zerbrechender Liebesbeziehungen auf – der zwischen Sandra und Samuel, aber auch der zwischen Sandra und ihrem Sohn Daniel. Denn während wir als Zuschauer*innen das Krimi-Rätsel lösen wollen, ist auch Daniel auf der Suche nach der Wahrheit über seine Mutter. Die Seh-Behinderung des neunjährigen Jungen fügt sich in das Motiv des Sehens und Begreifens: Nur wenn Objekte sich direkt vor seinen Augen befinden, kann Daniel sie sehen. Aber ist sehen gleich erkennen?

Ein Junge auf einem Dachboden. Er hält sich an der Wand fest, sein Blick ist trüb und geht ins Leere.

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Der Spielfilm im Allgemeinen arbeitet mit der  Ellipse, der Krimi im Besonderen mit einem Verbrechen, das wir als Publikum nicht sehen unddas er durch Indizien rekonstruiert bis er uns – jedenfalls im Falle der meisten Fernsehkrimis – schließlich eine Wahrheit präsentiert. Doch dieses Unterfangen ist in Anatomie eines Falls vergebens. Denn so nah Sandra der Kamera auch sein mag, so sehr bleibt sie dennoch auf Distanz. Es ist nicht Triets Absicht, dass wir sie begreifen. „I didn’t kill him“, sagt Sandra zu Beginn des Films zu ihrem Anwalt und dieser entgegnet: „That’s not the point“. Damit fasst der Dialog einen Film zusammen, der sich eben nicht dafür interessiert, ob Sandra ihren Ehemann ermordet hat oder nicht, sondern für den Prozess der Erkenntnissuche, die Suche nach der Wahrheit, die Anatomie eines Falls eben.

Und weil es um diese Anatomie geht, das Zerteilen eines komplexen Gebildes in seine Einzelteile mit dem Ziel es zu verstehen, macht die Gerichtsverhandlung einen Großteil von Triets Film aus. Dabei kollidiert der Staatsanwalt (Antoine Reinartz) mit seiner unbedingten juristischen Wahrheitssuche mit dem zutiefst privaten Kern des Verbrechens: Welche Indizien es auch geben mag, es sind nur Ausschnitte einer Beziehungsgeschichte, die wie jede andere auch aus individuellen Perspektiven zusammengesetzt ist. Oder anders gesagt: Die persönliche Wahrheit einer Person kann dem juristischen Anspruch nie gerecht werden. Wie also dem Tod Samuels auf den Grund gehen? That’s not the point.

Ein Gerichtssaal, im Hintergrund viel Publikum. Im Vordergrund der Staatsanwalt mit einer roten Robe, in der Hand ein Buch. Er gestikuliert und blickt fokussiert.

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Mit dem Fortschreiten des Verfahrens begreifen wir, dass Sandra nicht nur uns, sondern auch dem Gericht vor allem deshalb verdächtig erscheint, weil sie nicht dem Bild der tieftraurigen und hilflosen Witwe, der fürsorglichen und herzlichen Mutter entspricht. So wie der gesamte Film, der gänzlich ohne Musikuntermalung auskommt, ist auch seine Hauptfigur eher spröde, sachlich, zuweilen gefühlskalt. Sandra wäre weniger verdächtig, wenn sie ein Mann wäre, und Samuels Selbstmord deutlich wahrscheinlicher, wäre er eine Frau. Dem tatsächlichen Sehen, dem Erkennen stehen sexistische Rollenbilder im Weg – nicht nur dem Gericht, auch uns.

Ist Sandra eine schlechte Mutter? Und weshalb fragen wir uns das überhaupt? Auch Daniel hat immer mehr Zweifel und so entspinnt sich das zweite Beziehungsdrama dieses Films, wenn der Sohn sein Vertrauen in die Mutter zu verlieren droht. Auch hier ist Nähe keine Voraussetzung des Erkennens, sondern eine Hürde, und Justine Triet trifft den schmerzhaften Kern unserer aller Beziehungen zu jenen Menschen, die uns geboren haben: Näher können wir einander nicht sein, doch begreifen können wir uns deshalb noch lange nicht.

Nahaufnahme von Sandra Hüller in ihrer Rolle in Amatomie eines Falls. Sie blickt ernst und ein wenig in sich gekehrt.

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Auch angesichts dieser hoch emotionalen Zerreißprobe des Verhältnisses von Sandra und Daniel bleibt Anatomie eines Falls sachlich und distanziert, will nicht oberflächlich rühren, sondern innerlich bewegen. Können wir einander wirklich sehen, uns erkennen und begreifen? Oder ist jedes Bild, das wir voneinander haben, eine persönliche Entscheidung? Ist Daniels Mutter eine Mörderin?

That’s not the point.

Kinostart: 2. November 2023

Sophie Charlotte Rieger
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