All eure Gesichter – Kurzkritik
CN: Dieser Film und der Text darüber thematisieren S*xualisierte Gewalt (Kontakt Hilfetelefon)
Der Täter-Opfer-Ausgleich ist eine Form von Restorative-Justice, eine Alternative zu juristischen Verfahren mit dem Ziel der Wiedergutmachung und Rehabilitation. Hier begegnen sich unter intensiver Begleitung durch Sozialarbeiter*innen und Psycholog*innen Opfer und Täter*innen, um miteinander in den Dialog zu gehen. In Jeanne Herrys Spielfilm All eure Gesichter sind das einerseits Opfer bewaffneter Raubüberfälle und für andere, aber vergleichbare Verbrechen verurteilte Kriminelle, sowie eine junge Frau, die in ihrer Kindheit und Jugend Opfer inzestuöser sexualisierter Gewalt geworden ist und ihr verurteilter, aber wieder in Freiheit lebender Bruder.
Alle Eure Gesichter ist durch und durch ein Themenfilm, dessen finale Montage schließlich gar Werbefilmästhetik entwickelt: Jeanne Herry will für die Praxis des Täter-Opfer-Ausgleichs werben. Unklar bleibt, warum sie hierfür statt des immens dialoglastigen Talking-Heads-Films nicht dokumentarisch gearbeitet hat. Als Spielfilm wirkt Alle Eure Gesichter unangenehm pädagogisch und kann das Publikum nur schwerlich durch die zwei Stunden Laufzeit tragen.
Ein Argument für das Spielfilmformat könnte sein, hier Geschichten intensiver abbilden, jene Fragestellungen aufwerfen zu können, die auf empfindliche Stellen abzielen. Stattdessen aber lässt Herry hier die Gewaltopfer nicht mit ihren tatsächlichen Tätern, sondern Straffälligen mit vergleichbarem Profil aufeinandertreffen und entgeht damit der Frage, ob es zwischen durch die Tat verknüpften Betroffenen und Kriminellen wirklich zu einem Dialog kommen kann. Im Fall des Geschwisterpaars schreckt Herry vor der komplexen aber drängenden Frage zurück, wie die Sozialarbeiterin die intensive und empathische Zusammenarbeit mit einem Vergewaltiger bewältigt. Befremdlich wirkt auch, dass die Regisseurin den Inzest wiederholt in Rückblenden andeutet, während sie die bewaffneten Überfälle vor allem auf der Dialogebene vermittelt. Damit festigt All Eure Gesichter schließlich den Rape Culture Mythos, das bei sexualisierter Gewalt im Gegensatz zu anderen Verbrechen das Wort der Betroffenen als Beweis nicht ausreicht.
Kinostart: 14. Dezember 2023
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