Achtung Berlin 2016 – Von Mädchen und Monstern
Zufall oder gut programmiert – mein erster Tag beim Achtung Berlin Festival 2016 offenbarte überraschend ein interessantes Oberthema: Mit Luca tanzt leise und Der Nachtmahr hatte ich mir gleich zwei Filme männlicher* Filmemacher über die Selbstfindung junger Frauen* ausgesucht. So unterschiedlich die Werke hinsichtlich ihres Genres und der Hauptfiguren auch waren, so auffällig war die ihnen gemeinsame Verbildlichung von Persönlichkeitsanteilen durch nicht-menschliche Kreaturen. Während Luca tanzt leise seiner Heldin eine treue Hündin an die Seite stellt, kämpft die Protagonistin von Der Nachtmahr mit dem titelgebenden Albtraum-Gnom auch gegen sich selbst.

© Darling Berlin
Luca (Martina Schöne-Radunski) ist Mitte zwanzig und holt gerade ihr Abitur nach, doch eine Adoleszenzkrise droht ihr einen Strich durch die Rechnung zu machen. Nicht nur, dass Luca Schwierigkeiten hat, ihrem Leben eine produktive Struktur zu verleihen, auch die Abgrenzung von ihr nahestehenden Menschen gestaltet sich äußerst problematisch. Es scheint als habe jede_r mehr Macht über ihr Leben als sie selbst. Zum Beispiel die beste Freundin, die Luca kurz vor der Abiturprüfung zu einem Partywochenende verführt. Oder der (Ex)Freund Ben (Sebastian Fräsdorf), der ihre seelischen und körperlichen Grenzen überschreitet wann immer es ihm passt.
Wir müssen es uns selbst wert sein, unser Leben in den Griff zu bekommen. Und es ist eben jener fehlende Selbstwert, der Luca blockiert. Doch während sie nicht in der Lage ist, sich selbst in Schutz zu nehmen, kümmert sie sich liebevoll um die Hündin Marta, die – wie Luca selbst – auf eine schwierige Vergangenheit zurückblickt. Aber Marta ist in der Logik der Geschichte nicht nur ein Tier. Sie verkörpert die unschuldigen und verletzlichen, also die schützenswerten Persönlichkeitsanteile Lucas. Für ihren Hund kann die junge Frau ihr Leben strukturieren, regelmäßige Spaziergänge einplanen und damit auch ihrem eigenen Tagesablauf eine stützende Regelmäßigkeit verleihen. Selbstfürsorge hingegen ist ihr fremd.
Da Marta für Lucas Selbstwert steht, muss die Hündin sich unters Bett verkriechen, wenn der rücksichtslose Ben zu Besuch kommt. In der Begegnung mit ihrem abusiven Liebhaber hat Lucas Selbstwert keinen Platz, denn würde sie sich mit ihren Emotionen und Bedürfnissen ernst nehmen, könnte sie die Willkür und Grenzüberschreitung ihres Gegenübers weder dulden noch ertragen. Bens Aggression gegen die Hündin schließlich bringt die langersehnte Wende: In diesem Moment kann auch Luca die Zerstörungswut ihres Freundes erkennen und findet endlich die Kraft ihm entgegenzutreten, um Marta und damit sich selbst zu verteidigen. Mit dieser Abgrenzung macht Luca den entscheidenden Schritt in ein selbstbestimmtes Leben.

Der Nachtmahr © Koch Media
Während Regisseur Philipp Eichholtz seine Hauptfigur Luca als rotzfreche Göre mit Berliner Schnauze inszeniert, die fröhlich rülpst und ihrem (Ex)Freund auf die Mailbox furzt, präsentiert Akiz in Der Nachtmahr eine klassisch weibliche* Heldin. Tina (Carolyn Genzkow) ist ein zartes heranwachsendes Geschöpf mit wallendem Haar und knappen Outfits. Warum sie grundsätzlich Hotpants oder bauchfreie Oberteile tragen muss, erschließt sich mir dennoch nicht. Hierdurch gelingt es Regisseur Akiz nämlich nicht, seine Hauptfigur als Subjekt zu inszenieren. Stattdessen belässt er sie in der Rolle eines Lolita-ähnlichen Anschauungsobjekts.
Irgendwo zwischen Traum, Wahn und Realität wird Tina vom Nachtmahr heimgesucht, der den Kühlschrank im elterlichen Heim leer frisst und schließlich in ihr Mädchenzimmer einzieht. Während der kleine Gnom zu Beginn die Heldin wie auch das Publikum ängstigt, entpuppt er sich als durchaus freundlicher Geselle, der keine Bedrohung darstellt. Die Überidentifikation Tinas mit ihrem kleinen Monster verdeutlicht, dass es sich hier um ein und dasselbe Wesen handelt: Verletzt sich der Nachtmahr, blutet auch Tina. Der Ekel und die Angst vor dem unbekannten Wesen steht für die pubertäre Entfremdung des Mädchens* mit sich selbst. Der Nachtmahr ist all das, was sie nicht sein darf: Gefräßig, hässlich und kindlich.

Der Nachtmahr © Koch Media
Doch weder ihre Eltern, noch die Freundinnen oder der behandelnde Therapeut begreifen die Verbindung zwischen Tina und dem Monster. Die Ablehnung des Nachtmahrs ist auch eine Ablehnung von Tinas Wesen und die Therapieversuche stehen für den gesamtgesellschaftlichen Druck, einer vordefinierten Rolle von Weiblichkeit zu entsprechen. Deshalb führen Tinas Versuche, den Nachtmahr loszuwerden auch nirgendwohin, sondern steigern ihre geistige Verwirrung, die von ihrem Umfeld als Psychose gelesen wird. Im Grunde erzählt Akiz hier also von Hysterie, vom Unverständnis gegenüber starken weiblichen* Emotionen, die jedoch nichts anders als die Folge einer gesellschaftlich legitimierten Begrenzung der Persönlichkeit darstellen.
Der Weg zum Ziel ist demnach nicht die Vertreibung des Nachtmahrs, sondern seine Akzeptanz. Die Liebe zu dem unansehnlichen Wesen ist die Liebe Tinas zu sich selbst, zu jenen Persönlichkeitsanteilen, die sie ängstigen, weil sie nicht den gesellschaftlichen Erwartungen an eine junge Frau entsprechen.

Der Nachtmahr @ Koch Media
Luca und Tina – zwei Frauentypen, die unterschiedlicher kaum sein könnten – inhaltlich wie auch dramaturgisch. Während Philipp Eichholtz sich ganz auf seine Heldin einlässt, ihre Perspektive übernimmt und sie damit zu einem Subjekt ermächtigt, bleibt Akiz’ Inszenierung ein Blick von außen auf das sexualisierte Objekt Frau. Damit nimmt der Bildhauer und Filmemacher im Grunde jene Anspruchshaltung ein, die seine Heldin in die Psychose treibt. Der Nachtmahr zeigt einen puppenhaften, lieblichen Frauentyp, ein Ideal, dem unbedingt entsprechen zu wollen nur in die Neurose führen kann. Damit wird sich wohl keine junge Frau ermutigen lassen, das eigene kleine Monster endlich zu umarmen, zu rülpsen und dem (Ex)Freund auf die Mailbox zu furzen.
Kinostart von Der Nachtmahr: 26. Mai 2016
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[…] Rückenwind von vorn immer wieder durch den Kopf. Mit „der“ ist Regisseur Philipp Eichholtz (Luca tanzt leise) gemeint und mit „das“ die feinfühlige und glaubwürdige Darstellung weiblicher* Lebenswelten. […]