Wilder Diamant
Hören wir Côte d’Azur, denken wir an das blaue Wasser der französischen Mittelmeerküste, Megayachten der Reichen und zahlreiche Promis, die sich in Monaco und beim Filmfestival von Cannes tummeln. In Agathe Riedingers Spielfilmdebüt Wilder Diamant erleben wir eine andere Seite des traumhaften Urlaubsziels: Hier lebt die 19-jährige Liane (Malou Khebizi) mit ihrer Mutter und jüngeren Schwester unter dem Dach eines glanzlosen Mehrfamilienhauses in unsteten Verhältnissen. Die Familie hat kaum Geld, regelmäßiges Einkommen haben weder Liane noch die Mutter, letztere ist nur wenig in ihrer Rolle als Betreuungsperson präsent. Es scheint kein Tag zu vergehen, an dem Mutter und Liane nicht streiten oder sich beleidigen. Für ihre kleine Schwester will Liane ein besseres Zuhause schaffen, und um diesen Wunsch Realität werden zu lassen, braucht sie Geld. Die Chance dafür sieht Liane klar vor sich: Viel Geld gibt es als Influencerin, noch mehr Geld, wenn es nach „Miracle Island“ geht. ___STEADY_PAYWALL___
„Love Island“, „Too Hot Too Handle“, „Ex on the Beach“ – in Wilder Diamant ist es dieses fiktive „Miracle Island“, das die Sparte der Flirt/Love/Sex-Reality-Shows vertritt. Versprechen von Insta-Fame, kostenlosem Strandurlaub an idyllischen Locations und Preisgelder locken Teilnehmer*innen zum Mitmachen bei von Produzent*innen mal mehr, mal weniger vorab geplanten soapartigen Plots um Figuren, die spaßbereit, partyfreudig und unterhaltungsintensiv sind. Diese Form des Trash-TV, das Genre des „sich für nichts zu schade“-Lifestyles, ist viel verrissen und viel geliebt und lebt vor allem von Entertainment-Faktor und zügelloser Selbstvermarktung.
Eine Studie über die Abläufe hinter den Kulissen dieser Reality-TV-Formate ist Wilder Diamant dennoch bei weitem nicht. Vielmehr nähert sich Riedingers Film über die Hauptfigur Liane eben diesen Charakteren auf den Screens an, die – bei urteilenden Beobachter*innen oft undurchdacht – als wenig ernstzunehmend verschrien sind: Influencer*innen, Models oder Fashion Forwards, die sich nie endende Follower*innenzahlen und Looks wie Kim Kardashian wünschen. Denn, was dieses Herunterbrechen auf Insights, Marken und Trends von Kritiker*innen wie auch Enthusiast*innen oft übersieht, rückt in Wilder Diamant in den Vordergrund: Hinter den glänzenden Outfits und dem Willen zum Flirt-Marathon steckt auch der Wunsch, prekären Lebenssituationen zu entkommen.
Wilder Diamant begleitet Liane vor allem in dieser nervenzehrenden Wartezeit auf die erhoffte erlösende Nachricht, ob sie genug Follower*innenzahlen und Likes gesammelt hat, damit ihr Traum von „Miracle Island“ wahr wird. Riedinger bewegt sich mit den unpolierten Bildern von Kameramann Noé Bach nahe an ihrer Hauptfigur durch deren Alltag, zwischen Shoppingtouren und Partys mit Freundinnen, der Zeit zu Hause, romantischen Momenten mit ihrem Freund Dino und ihren Aufnahmen für Social Media. Neben der Hauptfigur rücken alle anderen Charaktere in den Hintergrund, kommen und gehen in wie Vignetten aneinandergereihten Momentaufnahmen, die ein Bild von Lianes Alltag bieten.
Durch seine Nähe zur Hauptfigur wirft Wilder Diamant vor allem einen Blick auf die Diskrepanz zwischen dem Image, das Influencer*innen für Plattformen entwerfen, und der Person dahinter. Für Social-Media-Posts tritt Liane selbstbewusst auf, teilt ihr Leben und ihren Körper, beim Casting für „Miracle Island“ muss sie über ihre Brust-OP, Flirtwilligkeit und ihre Bereitwilligkeit bei von der Produktion vorgefertigten Plotlines über sexy Flirts und biestige Streitereien mitzumachen sprechen. Diese (Über-)Sexualisierung, die Liane online oder beim Casting wie auch im wahren Leben erfährt, wird vor allem durch Malou Khebizis Darstellung von Lianes Hin- und Hertaumeln zwischen Unsicherheit und Entschlossenheit aufgefangen. Khebizi spielt in Riedingers Film ihre erste Filmrolle überhaupt. Ihre Liane ist entschlossen, aufbrausend wie auch melancholisch. Die Augen hat sie klar auf ihr Ziel gerichtet. Denn was Follower*innen nicht wissen, wir als Zuschauer*innen aber dicht verfolgen können, ist, wie Liane ihre Online-Persönlichkeit, die Brand-Identifikation, liebevoll bis ausufernd kuratiert.
Zu ihren Follower*innen fröhlich sprechend und immer neue Looks für sie parat, die sich gut verkaufen lassen, ist Liane im wahren Leben viel in sich gekehrt: Sie erscheint beim Reality-TV-Casting fast schon eingeschüchtert, gegenüber Freundinnen und Dino fehlen ihr die richtigen Worte, um ihre Gefühlswelt auszudrücken. Ihre Follower*innen sehen nicht die nicht mehr richtig sitzenden Extensions und abgebrochenen Glitzernägel, wissen nichts von den geduldig angeklebten Strasssteinen auf den High Heels und erfahren nicht, dass sich Liane die immer wieder neue Outfits nur durch Ladendiebstähle leisten kann. Dieses Erschaffen der Markenidentität entlang an finanzieller Not spitzt sich schließlich in einem Akt der Selbstverletzung zu: Um ihren Online-Auftritt für den Tag aufzufüllen, sticht sich Liane selbst ein Tattoo und lächelt tapfer in die Kamera, als sie das Ergebnis so schnell wie möglich online teilt. Dass sie dahinter vor Schmerzen kaum das Smartphone halten kann, bleibt für alle, die ihren Post auf der anderen Seite anklicken, unsichtbar.
Am Ende ist es Liane dann auch egal, welche Art von Kommentaren sie von Follower*innen bekommt, Hauptsache sie kommen. Diese reichen von beleidigend und übergriffig bis zum anfeuernden Support und Komplimenten. Denn nur durch diese Interaktionen steigt die Chance auf die Zusage bei „Miracle Island“ dabei zu sein. Die Kommentarspalte unter jedem Post ist für Liane zu einer Abhängigkeit, sogar einer Art Religion geworden. Riedinger spiegelt dies in ihrem Film durch regelmäßige Einblendungen der Kommentare im Format von Bibelversen. Gleichzeitig fungieren diese Textauszüge auch als eine Art Strukturierung in der Erzählung, um Lianes wachsende Reichweite zu verfolgen.
Wilder Diamant nähert sich einer möglichen Antwort auf die Frage, warum für manche Menschen das Mantra „alles für Fame“ zu gelten scheint. Er reflektiert das Unverständnis für Entscheidungen bei Trash-TV-Formaten mitzumachen in Lianes Mutter und ihren Freundinnen, die offen fragen, was Liane eigentlich aus ihrem Leben machen möchte. Doch Riedinger ist nicht daran interessiert, zu richten, ob es Sinn macht, ob das Leben wirklich besser oder mehr wert ist, wenn alles nach Likes und Follower*innenzahlen ausgerichtet ist. Viel mehr will Wilder Diamant erzählen, welche Chancen sich vor allem junge Frauen in finanzieller Not als Influencerinnen auf Social Media und bei Reality-TV-Auftritten erhoffen. Es bleibt zum Ende, nach allem Warten, nach all den Streits, die Liane austragen musste, und all den Insta-Posts, die sie immer erfolgreicher werden lassen, nichts anderes übrig als mitzufiebern, dass es mit „Miracle Island“ klappt und Lianes Wunsch, ihre Familie zu unterstützen, endlich wahr wird. Unerwartet, und daher emotional eindrucksvoll, ist Wilder Diamant so eine aufmerksame Studie des Ausharrens und Durchhaltevermögens, die gleichermaßen von Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit erzählt.
Wilder Diamant startet am 12. Dezember 2024 im Kino.
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