Wild

Wir alle kennen einen Menschen wie Ania, eine Person, die so unsichtbar wie möglich sein möchte, deren Körper sich selbst so verleugnet, dass er abwesend erscheint. Es ist mehr als nur Zurückhaltung. Ania ist nicht schüchtern, sie sucht die Unsichtbarkeit, das Nicht-Vorhandensein in einer Welt, der sie nichts abgewinnen kann. Die Distanz die Regisseurin Nicolette Krebitz zu Beginn ihres Films Wild zur Heldin wahrt, spiegelt Anias bewusst Isolation wider. So wie Ania andere Menschen von sich fern hält, muss auch die Kamera einen Respektabstand wahren. Natürliches Licht und ein geringes Farbspektrum in Kombination mit der introvertierten Hauptfigur erzeugen ein Bild von geduldeter Tristesse. Da ist keine Verzweiflung, nur Gleichgültigkeit und Desinteresse. Die Betriebsfeier zieht an Ania ebenso vorbei, wie der Rest ihres Lebens. Ihre zwei einzigen sozialen Kontakte sind ihr entglitten: Der Großvater liegt im Sterben, die Schwester ist zu ihrem Freund gezogen.

Doch dann passiert etwas völlig Unvorhergesehenes: Ania verliebt sich, auf den ersten Blick, in einen Wolf. Plötzlich steht er vor ihr, auf der Wiese nahe ihres Plattenbaus. Und sein eindringlicher Blick ist der erste, der sie erreicht. Wo alle Menschen an Anias Schutzmauern abprallen, trifft sie der Wolf mitten ins Herz.

© NFP

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Und wie das so ist mit einer neuen Liebe, beflügelt auch diese Begegnung. Inmitten der tristen Gleichgültigkeit entsteht auf einmal ein Ziel: Ania möchte den Wolf zu sich nach Hause holen. Plötzlich scheint sich alles wie ein Puzzle-Spiel zusammenzufügen: ein Buch über Wölfe, das sie im Zimmer ihrer Schwester findet, ein Dienstwagen, der ihr zufällig in die Hände gefallen ist, und ein industrieller Textil-Reißwolf inklusive Belegschaft, mit deren Hilfe sie auf die Lappjagd geht. All diese Elemente weiß Ania nun zu ihrem ganz persönlichen Traumbild zusammenzusetzen, um ihre große Liebe nach Hause zu holen.

Es ist ein wenig märchenhaft, wie sich vermeintliche Zufälle plötzlich zu einem logischen Ganzen zusammensetzen. Die Aura der Magie kollidiert mit der ungeschönten Realität wie sie Krebitz in ihrem Film abbildet, doch erstaunlicher Weise wird der Zauber der Ereignisse dadurch nicht gemindert, sondern verstärkt. Krebitz taucht tief in die veränderte Wahrnehmung ihrer Heldin ein, in deren plötzliche Sensibilität für Geräusche und Lichtstimmungen. Dabei erinnert die Inszenierung der speziesübergreifenden Begegnung immer wieder an eine klassische Liebesgeschichte, mit anfänglichen Konflikten, einer romantischen Vereinigung und dem ersten, berauschenden Sex.

Denn ja, auch den Sex gibt es. Erotische Gefühle und Gelüste gehören zu jenen Sinneserfahrungen, die in Ania durch den Wolf freigesetzt werden. Wenn ihr vierbeiniger Liebhaber sie in einer Traumsequenz oral befriedigt, mag das manch eine_n verstören, doch steckt gleichzeitig so viel ungebremste Leidenschaft in diesem Moment, dass er genauso gut erregend wirken kann. Anias vernachlässigter und verleugneter Körper erblüht mit allen Sinnen. Ein Treppengeländer wird zum Sexualpartner, der unsympathische Chef zum Objekt der Begierde. Und spätestens jetzt ist klar, dass der Wolf nicht Anias Gegenüber darstellt, sondern einen Teil von ihr.

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So wie die junge Frau das Tier auf Dauer nicht in ihrer Wohnung einsperren kann, drängt auch ihre eigene animalische Seite mit allen Kräften nach außen. Mit dem Wolf akzeptiert sie ihre Gelüste und distanziert sich von gesellschaftlichen Normen und Ansprüchen, von Ernährungsvorschriften wie auch Schönheits- und Reinheitsidealen. Wenn sie schließlich ihrem Chef auf den Schreibtisch kackt, hat sie ihren hedonistischen Höhepunkt erreicht.

Dass Nicolette Krebitz hier nicht nur ein Märchen erzählt, sondern auch ein Bild über das gesellschaftliche Gefängnis der Frau* zeichnet, drängt sich den Zuschauer_innen nicht auf. Unterschwellig lässt Krebitz immer wieder Diskurse über Schönheit einfließen. Ein Meeting in Anias Firma thematisiert wie nebenbei sexistische Werbekampagnen. Indem die Regisseurin hier derart subtil vorgeht, schützt sie ihre Heldin vor einer Opferrolle. Sie will kein Mitleid für Ania wecken, sondern lediglich die Geschichte eines Ausbruchs erzählen. Statt tränenreicher Dramen wählt sie poetische und zunehmend sinnlichere Bilder, die Anias Entwicklung emotional statt rational erfahrbar machen. Dabei balanciert Krebitz stets erfolgreich auf einem schmalen Grat zwischen Surrealität und Naturalismus: Die Zuschauer_innen sind von einer anhaltenden Unsicherheit befangen, einer Unfähigkeit, die Elemente des Films in eine bekannte Schublade einzuordnen. Dass sich Wild bis zum Ende weigert, diese Ambivalenz aufzulösen, lässt schließlich keine andere Lesart als eine metaphorische zu. Selten war ein Film auf so indirekte Weise so direkt.

DVD-Start: 27. Oktober 2016

Sophie Charlotte Rieger
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