Top Gun vs. Top Gun: Maverick – Die Angst vor dem queeren Blick

Sechsunddreißig Jahre – mehr als eine Generation – nach Top Gun (Tony Scott, 1986) ist Pete Mitchell aka Maverick aka Tom Cruise zurück. Immer noch ein Draufgänger und seinem Vorgesetzten Admiral Chester Cain (Ed Harris) ein Dorn im Auge, bekommt „Mav” den Auftrag, eine Gruppe Top Gun Absolvent:innen für eine Spezialmission zu trainieren. Denn in Top Gun: Maverick (Joseph Kosinski) steht nichts Geringeres als die nukleare Sicherheit der Welt auf dem Spiel.

Tom Cruise in Top Gun: Maverick © Paramount Pictures

Tom Cruise in Top Gun: Maverick © Paramount Pictures

Top Gun – und das macht den Film interessant – ist so patriarchal-sexistisch wie atemberaubend homoerotisch. Ein Seherlebnis irgendwo zwischen frauenfeindlichem cringe und subversivem Vergnügen. Aus heutiger Sicht scheint dieses Spannungsfeld, welches sich auch in Filmen wie Tango & Cash (Andrei Konchalovsky,1989) oder Lethal Weapon (Richard Donner, 1987) auftut, fest in den 1980er Jahren verortet. Was also erzählt Top Gun: Maverick nach mehr als 30 Jahren über Männlichkeit und Sexualität? Wie geht der Film mit seinem queeren Erbe um? Schnallt euch an, es geht ins Jahr 1986 und dann per Überschall zurück in die Gegenwart.___STEADY_PAYWALL___

Top Gun (1986) I want somebody’s butt, I want it now!

In ihrem Aufsatz mit dem schönen Titel Dumb Movies for Dumb People (1993) argumentiert Yvonne Tasker, dass die Action Blockbuster der 1980er-Jahre nicht so hohl sind, wie sie scheinen, sondern sich mit Männlichkeit, Klassenzugehörigkeit und Sexualität auseinandersetzen. Sie formuliert unter anderem die Frage, ob es möglich sei, eine bewusste Performance, eine Parodie toxischer Männlichkeit von einer repressiven Inszenierung, einer Verherrlichung zu unterscheiden. Tasker kommt zu dem Schluss, dass der Blick, das Bewusstsein den Unterschied macht. Dieses Bewusstsein ist nicht für alle Zuschauenden gleich, es unterscheidet sich je nach gelebten Erfahrungen und Identität.

Monica Barbaro und Miles Teller in Top Gun: Maverick © Paramount Pictures

Monica Barbaro und Miles Teller in Top Gun: Maverick © Paramount Pictures

Top Gun ist ein schönes Beispiel dafür, wie ein äußerlich heteronormativer, sexistischer Film von cis Männern über cis Männer gerade wegen seiner unreflektierten Haltung als queer gelesen werden kann. Im Zentrum des Films steht die Rivalität zwischen Maverick und Iceman (Val Kilmer). Beides top Piloten, die, wie ihre Namen verraten, unterschiedlicher nicht sein könnten. Ice fliegt nach Vorschrift, Maverick pfeift auf die Regeln. Sie geraten regelmäßig aneinander, weil Iceman genervt ist von Mavericks gefährlichen Flugmanövern. Und weil sie nicht ausknobeln können, wer der „der Beste” ist.

Ihre Konfrontationen finden regelmäßig im Umkleideraum statt und erinnern mehr an aggressives Flirten als tatsächliche Auseinandersetzungen. Möglicherweise weil sie halb nackt sind und sich intensiv in die Augen starren, who knows. Nachdem sie am Ende des Films erfolgreich ein Funkschiff verteidigt haben, liegen Maverick und Ice sich in den Armen. „You can be my wingman anytime,” grinst Ice. „Bullshit,” antwortet Maverick. „You can be mine.” Dem ist nichts hinzuzufügen, außer: Get a room.

Aber auch der Rest der Top Gun Academy scheint nicht besonders straight. In der ersten Theoriestunde erklärt Commander Mike Metcalf, genannt Viper (Tom Skerritt) die „kill ratio” US-amerikanischer Kampfflugzeuge. Wir sehen das Bild eines Kampfjets, der einen anderen vom Himmel schießt. „This gives me a hard-on”, stöhnt ein Pilot, woraufhin sein Sitznachbar sich zu ihm hinüber beugt und „Don’t tease me,” flüstert. Nachdem Maverick gefährlich nah an einem Funkturm vorbeigeflogen ist, wütet Air Boss Johnson (Duke Stroud): „I want somebody’s butt, I want it now, I’ve had it!”

Die Krönung ist ein mittlerweile Filmgeschichte gewordenes Beachvolleyballspiel zwischen Maverick und seinem Freund und Radar Intercept Officer Goose (Anthony Edwards) auf der einen und Ice und dessen RIO Slider (Rick Rossovich) auf der anderen Seite. Die Szene dauert geschlagene zwei Minuten, während denen die Kamera liebevoll auf eingeölten Muskeln und jeder Menge High Fives verweilt. Musikalisch untermalt wird das Ganze von Kenny Loggins’ Playing with the Boys mit so passende Textpassagen wie „Bodies working overtime/Man against man.”

“Shiny homoerotic commercial” und “gay fighting force” Reaktionen auf Top Gun

Wie kann diese erotische Spannung 1986 niemandem aufgefallen sein? Natürlich ist sie aufgefallen. Filmkritikerin Pauline Kael, die mit Top Gun nichts anfangen konnte, schrieb im New Yorker: „When [Kelly] McGillis is offscreen, the movie is a shiny homoerotic commercial: the pilots strut around the locker room, towels hanging precariously from their waists. It’s as if masculinity had been redefined as how a young man looks with his clothes half off.”

Subversives Sehvergnügen lässt sich Kael auf keinen Fall unterstellen. In Quentin Tarantinos Lesart ist es dafür umso mehr vorhanden. In einer Party-Szene des – zurecht in Vergessenheit geratenen – Films Sleep With Me (Rory Kelly, 1994) tischt uns Tarantino die Theorie auf, dass im Zentrum von Top Gun Mavericks Ringen mit seiner Sexualität steht. „You’ve got Maverick, and he’s on the edge, man. He’s right on the fucking line. And you’ve got Iceman, and all his crew. They are gay, they represent the gay man. And they’re saying, go, go the gay way.” Für Tarantino endet der Film mit Maverick und Iceman als „gay fighting force” und ist „subversion on a massive level.”

Danny Ramirez in Top Gun: Maverick © Paramount Pictures

Danny Ramirez in Top Gun: Maverick © Paramount Pictures

Damit liegt er allerdings nicht ganz richtig. Der schwule Subtext in Top Gun ist unbeabsichtigt, zumindest laut Produzent Jerry Bruckheimer. Aufmerksamkeit auf die homoerotische Spannung, die sexuellen Innuendos, das schwule Begehren zu lenken, bedeutet, Top Gun zu queeren, ihn mit einem queeren Blick zu betrachten.

Toxische Männlichkeit und frauenfeindliches Erzählen in Top Gun

Dieses queere Kopfkino ist auch ein coping Mechanismus gegenüber einem Film, der toxische Männlichkeit als heldenhaft darstellt und Sex mit Gewalt verbindet. Feindliche Flugzeuge abzuschießen und Gegner:innen zu besiegen, wird verbal mit sexueller Dominanz gleichgesetzt.

Diese Verstrickung von Sex mit Macht und Gewalt setzt sich auch auf romantischer Ebene fort. Als Maverick und Goose durch die Tür einer gut besuchten Bar treten, sagt Maverick: „That’s what I call a target-rich environment.” Die beiden schließen eine Wette ab. Wer zuerst mit einer Frau geschlafen hat, gewinnt. Charlie Blackwood (Kelly McGillis) taucht an dieser Stelle zum ersten Mal auf. Maverick singt ihr vor versammelter Mannschaft ein Ständchen und zwingt sie damit, sich auf ein Gespräch einzulassen. Nachdem sie ihr Desinteresse bekundet hat, folgt er ihr auf die Damentoilette. Das ist kein und war nie Flirten, sondern sexuelle Belästigung.

Monica Barbaro in Top Gun: Maverick © Paramount Pictures

Monica Barbaro in Top Gun: Maverick © Paramount Pictures

Schlimmer als der Sexismus seiner Figuren ist der Sexismus des Films selbst. Während Charlie den Top Gun Piloten und dem Publikum noch einmal offiziell vorgestellt wird, nämlich als Astrophysikerin im Auftrag des Pentagons, zeigt der Film nur ihre Beine.

Auf die visuelle Demütigung folgt die narrative, als Maverick Charlies Autorität vor der Gruppe untergräbt und der Film sein Verhalten erneut als leicht arroganten, aber validen Flirtversuch abtut. Außerdem ahnen wir von Anfang an, dass Charlies Widerstand nur temporär ist. Sie mag zunächst genervt sein von Mavericks Avancen, wird ihnen aber so unerklärlich wie plötzlich nachgeben. Am Ende gibt Charlie ohne erkennbaren Grund ihren Traum, einen Job in Washington für Maverick auf.

Bashir Salahuddin in Top Gun: Maverick © Paramount Pictures

Bashir Salahuddin in Top Gun: Maverick © Paramount Pictures

Die Beziehung zwischen Maverick und Charlie, die Auffassung des Films von heterosexueller Liebe, ist so toxisch, so wenig nachvollziehbar oder spürbar, dass eine queere Lesart von Top Gun narrativ und emotional wesentlich mehr Reiz hat. Die Vorstellung, dass die Rivalität zwischen Maverick und Iceman eine dezidiert erotische Komponente hat, dass sie einander erobern, während Charlie in Ruhe an ihrem Forschungsprojekt arbeitet, ermöglicht es nicht nur, den Film zu genießen, sondern ist auch eine Geste der Aneignung.

Selbst die verbal aggressive Sprache ist unter der Prämisse, dass hier ein schwules Begehren zum Ausdruck kommt, für das die Figuren keine Worte haben, einfacher zu ertragen. Diese Lesart bricht das heteronormative Erzählmuster und lenkt den Blick darauf, dass erotisches Begehren zwischen cis Männern, wie Eve Kosofsky Sedgwick in Between Men (1985) argumentiert, im Patriarchat unterdrückt werden muss. In Top Gun tritt es gerade deshalb zutage, weil der Film toxischer Männlichkeit so unfassbar unreflektiert begegnet. Oder anders gesagt: Top Gun ist wie ein langer Freud’scher Versprecher.

Top Gun: Maverick (2022)

Mehr als 30 Jahre nach Erscheinen des ersten Films ist die Katze aus dem Sack, die queere Lesart Top Guns ist keine obskure Theorie, sondern allseits bekannt, wie zahlreiche Artikel, Videos und Interviews zum Thema zeigen. Wie also geht Top Gun: Maverick mit seinem queeren Erbe um? Haben Maverick und Iceman zueinandergefunden? Leitet Charlie das Pentagon? Die Antwort der Filmschaffenden lautet: Nein, natürlich nicht. Was ist das überhaupt für eine Frage? Ice ist glücklich verheiratet, vielen Dank, und Charlie… we don’t talk about Charlie, sie gehört der Vergangenheit an.

I feel the need, the need for… original female characters

Überhaupt ist es auffällig, dass der Film eine Rückkehr der weiblichen Top Gun Charaktere von Anfang an ausgeschlossen hat. Die Chance, ihnen wenigstens im Nachhinein gerecht zu werden, verpasst er damit spektakulär. Weder Meg Ryan, die Gooses Partnerin Carol spielte noch Kelly McGillis finden Platz in Top Gun: Maverick. Dafür schüttelt der Film einen neuen/„alten” love interest aus dem Ärmel: Penny Benjamin, die in Top Gun als eine von Mavericks romantischen Verstrickungen erwähnt wird, gespielt von Jennifer Connelly.

Über die Jahre scheinen die beiden eine On-Off-Beziehung geführt zu haben bzw. hat Maverick Penny immer wieder sitzen lassen. Nichtsdestotrotz erwacht ihre Romanze wieder zum Leben. Auch in diesem Film aus unerklärlichen Gründen. Daran hat sich nichts geändert.

Jennifer Connelly in Top Gun: Maverick © Paramount Pictures

Jennifer Connelly in Top Gun: Maverick © Paramount Pictures

Geändert hat sich einiges in puncto homoerotische Spannung. Die geht in diesem Film nämlich gegen Null. Iceman und Maverick sind seit nunmehr 30 Jahren befreundet, mehr nicht. Ice ist ein 4-Sterne-Admiral, Kommandant der Pazifikflotte und rettet Maverick immer wieder den Hintern, denn der widersetzt sich in alter Manier immer noch allen möglichen Befehlen. Es gibt eine Beachrugby-Szene, bei der weder Kenny Loggins im Hintergrund läuft, noch Spannung in der Luft liegt. Hier geht es eindeutig um Teambuilding. Eingeölte Oberkörper fehlen allerdings trotzdem nicht. Wenigstens dürfen dieses Mal zwei Frauen mitspielen und sich auch mal ein High Five geben.

Rooster vs. Hangman Angst vor dem queeren Blick

Im jungen Team der Top Gun Absolvent:innen wiederholt sich derweil die Geschichte. Da ist einerseits Bradley Bradshaw, genannt Rooster (Miles Teller), Sohn von Mavericks verstorbenem Freund Goose und mittlerweile einer der besten Kampfpiloten. Vererbt hat sich übrigens nicht nur die Profession, sondern auch das Oberlippenbärtchen. Roosters einzige Schwäche ist Denken – kein Scherz. Im Kampfflugzeug denkt er zu viel, ist vorsichtig und zögert auch mal. Bei ihm kommt Sicherheit zuerst. Erinnert stark an… Iceman, genau. Auf der anderen Seite ist Roosters Rivale, Jake Seresin, genannt Hangman (Glen Powell), weil er seine Teamkolleg:innen gerne mal hängen lässt. Seine persönliche Performance ist ihm am wichtigsten.

Glen Powell in Top Gun: Maverick © Paramount Pictures

Glen Powell in Top Gun: Maverick © Paramount Pictures

Das Drehbuch zu Top Gun zeichnete Maverick ursprünglich übrigens wesentlich ambivalenter als der Film. Seine Rücksichtslosigkeit wurde nicht unter den Teppich gekehrt und führte am Ende direkt zum Tod von Goose. Der Film hingegen bemüht sich sehr, die Angelegenheit als Unfall darzustellen. Top Gun: Maverick vertauscht nicht nur die Rollen, die Arroganz und der Sexismus von Hangman, der deutlich als Maverick-Verschnitt zu erkennen ist, werden hier tatsächlich problematisiert. Hangman ist kein Sympathieträger.

Wer auf queeren Subtext zwischen den jungen Pilot:innen hofft, wird enttäuscht. Die Animositäten zwischen Rooster und Hangman sind am Ende des Films zwar ansatzweise aus dem Weg geräumt, mehr als ein fester Händedruck und die Wiederholung eines Catchphrase ist allerdings nicht drin. Keine Umarmung, keine gemeinsame Zukunft. Der Film hält die beiden so sorgsam auf Abstand, dass es scheint, als hätte er Angst vor „Fehlinterpretationen”.

Aus der Zeit gefallen Wieso Top Gun Geschichte ist

Fakt ist allerdings auch, dass unbewusst homoerotische Filme wie Top Gun oder Tango & Cash ein Phänomen der 80er-Jahre sind. Michael Bay beispielsweise mag heute nach wie vor abstoßende, frauenfeindliche Filme drehen, die Spannung zwischen den männlichen Hauptfiguren ist aber keineswegs sexuell aufgeladen. Dafür sorgen im Zweifelsfall homophobe Witze.

Auf der anderen Seite des Spektrums setzen sich manche Blockbuster zumindest ansatzweise mit den hypermaskulinen, sexistischen „Regeln” des Genres auseinander und sprechen in diesem Rahmen auch homoerotisches Begehren an. In der Regel aber nur dann, wenn der Film mit komödiantischen Elementen und metatextuellen Referenzen arbeitet, wie beispielsweise Thor: Ragnarok (Taika Waititi, 2017).

Monica Barbaro in Top Gun: Maverick © Paramount Pictures

Monica Barbaro in Top Gun: Maverick © Paramount Pictures

Ein queerer Blick ist in Top Gun: Maverick immerhin nicht mehr unverzichtbar, denn zumindest oberflächlich ist der Film weniger frauenfeindlich als der erste Teil. Unter den Top Gun Absolvent:innen ist nun auch Lieutenant Natasha Trace, genannt Phoenix (Monica Barbaro). Anders als zu erwarten gewesen wäre, ist Phoenix bis zum Schluss mit von der Partie und kommt bei der eigentlichen Spezialmission zum Einsatz. Dabei ist sie in erster Linie eine Kampfpilotin und nicht das Objekt männlicher Begierde. Dass sie als Frau im Militär auch sexistischen Kommentaren ausgesetzt ist, verschweigt der Film nicht. Ebenso wenig besteht er allerdings den Bechdel-Test. Während das Team wesentlich diverser aufgestellt ist als noch in Top Gun – in weiteren Rollen sind Jay Ellis, Danny Ramirez und Bashir Salahuddin zu sehen – enthält uns der Film die Erfahrungen und Gefühle dieser Figuren allerdings vor.

Keine Zeit für Gefühle – Verpasste Chancen in Top Gun: Maverick

Top Gun war einer der ersten High Concept Filme von Produzent Jerry Bruckheimer. High Concept bezeichnet in diesem Fall einen bewusst dünnen Plot mit Breitenwirkung und besonders viel Action. Bruckheimer, der von Beverly Hills Cop (Martin Brest, 1984) bis zu den Fluch der Karibik Filmen gefühlt jedes Action-Spektakel in Hollywood produziert hat, ist auch in Top Gun: Maverick am Werk. Das Sequel macht seinem High Concept Erbe alle Ehre. Flugzeuge stehen an erster Stelle, der Rest ist Dekoration.

Miles Teller in Top Gun: Maverick © Paramount Pictures

Miles Teller in Top Gun: Maverick © Paramount Pictures

Die zwischenmenschlichen Subplots werden so skizzenhaft angerissen, dass sie selbst für einen High Concept Film sehr simpel sind. Der emotionale Konflikt im Zentrum des Films wird dieses Mal zwischen Maverick und Rooster ausgetragen. Dabei geht es weniger darum, dass Maverick möglicherweise Schuld am Tod seines Freundes trifft, sondern dass er Rooster zunächst den Eintritt in die Navy vereitelt hat. Er habe versucht, eine Vaterfigur für ihn zu sein, sagt Maverick. Die beiden scheinen sich kaum zu kennen und es ist auch hier zu vermuten, dass Maverick vor allem durch seine Abwesenheit aufgefallen ist. Wie das genau ausgesehen hat, erfahren wir nicht. Der Film ist so vollgestopft mit Flugzeugstunts, Fanservice und Subplots, dass für Introspektion kaum Zeit bleibt.

Handwerklich – und das ist so offensichtlich wie eindrucksvoll – gibt es an Top Gun: Maverick wenig auszusetzen. Die einzelnen Teile – Kamera, Schnitt, Musik und Drehbuch – greifen ineinander wie die Zahnräder einer perfekt geölten Maschine. Und doch fehlt am Ende der Raum für das Unalkulierbare, Ungewollte des ersten Films. Top Gun: Maverick hat solche Angst vor Gefühlen und ungewollten Lesarten, dass er lieber gar nichts sagt, anstatt „missverstanden” zu werden.

Auf dem Schleudersitz

Fassen wir kurz zusammen. Top Gun: Maverick ist weniger frauenfeindlich als Top Gun, aber trotzdem Lichtjahre entfernt von einer ausgewogenen Darstellung, geschweige denn einem ansatzweise feministischen Film. Eine subversiv-homoerotische Lesart des Films ist schwierig, er ist so straight wie langweilig. Top Gun macht deshalb – und das ist verblüffend – immer noch mehr Spaß.

Jay Ellis in Top Gun: Maverick © Paramount Pictures

Jay Ellis in Top Gun: Maverick © Paramount Pictures

Das ganze Konzept der Top Gun Filme, dies blieb bisher unerwähnt, war und ist reaktionär. Nach dem Erfolg von Top Gun stiegen die Bewerbungen bei der Navy für die Ausbildung zu Kampfpilot:innen merklich an. Die Armee hatte in manchen US-Kinos sogar Rekrutierungsstellen. Top Gun: Maverick, daran hat sich auch nach 36 Jahren nichts geändert, ist ein Rekrutierungsfilm, ein Stück Militärpropaganda. Gerade im Angesicht des Kriegs in der Ukraine, wo täglich Menschen sterben, fühlt sich die Verherrlichung von militärischen Auseinandersetzungen – und seien sie noch so unrealistisch – falsch an. Dazu kommt, dass sich die Klimakrise von Jahr zu Jahr dramatisch zuspitzt. Die komplett sinnlose, unkritische Umweltverschmutzung und der absolut obszöne Umgang mit fossilen Energien ist im Jahr 2022 unentschuldbar.

Natürlich ist klar, dass ein Top Gun Film keine pazifistische Haltung vertreten wird. Es ist trotzdem nur schwer verständlich, dass die Filmschaffenden hinter Top Gun: Maverick es dem Publikum nach wie vor nicht zutrauen, einen Film genießen zu können, der Action mit einer Auseinandersetzung über das US-Amerikanische Militär verbindet. Der Film zeigt „echte” Flugzeugstunts, er wäre so viel besser, wenn er den Mut hätte, auch „echte” Emotionen und „echtes” Begehren zu zeigen.

Kinostart 26.05.2022

Theresa Rodewald