Raumgeben – der Film dem Kino

Heide Schlüpmann Filmwissenschaftlerin, Philosophin, Mitbegründerin der Kinothek Asta Nielsen und Mitherausgeberin der für die feministische Filmtheorie und -geschichte unvergleichlich relevanten Zeitschrift Frauen und Film hat im März 2022 ein neues Buch veröffentlicht: Raumgeben – der Film dem Kino. Was bereits im Titel nach einem Imperativ klingt, bildet auch die Intention und den roten Faden des 140-Seiten-Textes: Schlüpmann widmet sich der Geschichte des Kinos, dessen Bedeutung für Gegenbewegungen und als Raum der Kontemplation, des Innehaltens vor dem sogenannten Fortschritt. Von Film zu sprechen und über Film zu schreiben konzertiert sich heute primär auf Ästhetik und Struktur der Erzählung aber kaum auf die Erfahrung der Wahrnehmung. Das war natürlich vor der Durchsetzung des Fernsehers anders. Schlüpmann begibt sich auf Spurensuche und fordert dazu auf, im Begriff Film das Kino zu denken und mit politisch-philosophischen Weitblick in die Vergangenheit zu schauen statt Kino vorrangig in der Zukunft einer von Flexibilität geprägten, kapitalistischen Marktlogik zu sehen, in der es keine Verwertbarkeit finden kann.

© Vorwerk 8

Im Gegensatz zu unzählbaren Panels zur Zukunft des Films, die besonders in den letzten Jahren der Pandemie auf kaum einem Festival oder Branchenevent fehlten, öffnet Schlüpmann in Raumgeben – der Film dem Kino den Blick hin zur Vergangenheit. Welche Funktion hatte Kino für sein Publikum vor den 1970er Jahren? Welche Momente stellten Knotenpunkte in der Medienentwicklung dar, in denen sich die Bedeutung des Kinos für die Gesellschaft und speziell für die Filmwissenschaft und -kritik veränderte? In drei Überkapiteln setzt Schlüpmann Schwerpunkte auf eine Theorie des Kinos, eine Geschichte des Kinos und die Auseinandersetzung mit der Räumlichkeit des Kinos. Dabei trennt sie die drei Komplexe keinesfalls strikt, sondern verwebt deren Inhalte im Voraus- und Rückgriff immer wieder miteinander. Ab den 1970er Jahren bildeten Kinotheorie, Kinobewegung und Neue Filmgeschichtsschreibung Ansätze und Initiativen, die dem Kino als Erfahrungsort für den Menschen des 20. Jahrhunderts den Rücken zu stärken suchten. Im Zuge der Kinobewegung entstanden kommunale und Programmkinos, die bis heute cinephile, stets von der Gefahr eines baldigen Verschwindens umwölkte Gegenorte zu den Cine- und Multiplexen unserer Konsumpaläste bilden. ___STEADY_PAYWALL___

Die deutsche Kinobewegung nahm in den 1970er Jahren Fahrt auf, zu einer Zeit, als der Ereignisort bereits vom Einzug des Fernsehens abgelöst wurde und somit den Weg seiner Verdrängung aus dem Leben der Menschen bereits beschritten hatte, so erklärt die Autorin. An diese Entwicklungen knüpfte Karsten Witte mit seiner 1970 herausgegebenen Schriftenreihe an: Seine Theorie des Kinos (darunter Texte von Ulrich Gregor oder Peter Kubelka) wollte eine Grundlage schaffen. Er folgte den Spuren Siegfried Kracauers und dessen zehn Jahre zuvor im US-amerikanischen Exil erschienenen Theorie des Films. Die Errettung der äußeren Wirklichkeit. Kracauers Filmbegriff (Kracauer publizierte ab den 1920er Jahren) war der des Kinos immanent: Mit Film meinte er Kino mit, denn Film passierte ausschließlich im Kino. Die Notwendigkeit einer Diversifizierung war also nicht gegeben,  die Sichtung im Dunkeln für alle Rezipierenden gleich gegeben. 

Kino als Ort des Widerstands

Die Kinobewegung verebbte jedoch bald, in Folge etablierte sich die Filmwissenschaft, um später in die Medienwissenschaft überzugehen. Die Theoretisierung von Kino verlor an Bedeutung. Während in den 1980er Jahren gleichsam als Antwort auf die Neuen Medien und Medientheorien eine Hinwendung zur Filmästhetik über die Philosophie erfolgte – Gilles Deleuze und Stanley Cavell –, gewann die Reflexion über das Kino als sozialer Ort im Zuge eines verstärkten Geschichtsbewusstseins und der Wiederentdeckung des Frühen Kinos von Seiten der feministischen Filmkritik Bedeutung. Filmgeschichtsschreibung wurde neu perspektiviert und das Kino von Filmgeschichte und Wissenschaft einerseits als Objekt beachtet, andererseits durch Festivals wie Il Cinema Ritrovato oder Le Giornate Del Cinema Muto auch wieder als Ereignis gegenwärtig erfahrbar gemacht. Die Bedeutung des Kinobesuchs für Frauen und Minderheiten wurde im Zuge der Beschäftigung mit dem Frühen Kino neu entdeckt und nimmt auch für Schlüpmanns Überlegungen eine zentrale Rolle ein. Die Filmforschung widmete sich damit einer Zeit, in der die Leinwand Menschen verschiedener Schichten, Herkünfte und Geschlechts vor sich vereinte – aus heutiger Sicht eine utopische Vorstellung. Die gesellschaftlich erzeugte Dichotomie von Privatraum und öffentlichem Raum wird damit einhergehend zum Ausgangspunkt diverser Reflexionen. 

So fragt Raumgeben denn, ob sich der Kinoraum als privat oder als öffentlich beschreiben lässt. Liegt seine Besonderheit darin, dass er sich einer eindeutigen Zuschreibung entzieht? Welche Implikationen bringen private und öffentliche Orte mit sich? Die Autorin Heide Schlüpmann geht abermals einen Schritt zurück, nämlich in die Zeit der Industrialisierung im 18. Jahrhundert, als eine zunehmende Trennung von privatem, immobilen, der Frau zugeordneten zum öffentlichem, mobilen, dem Mann und der Arbeit (unter der ja im Sinne des Kapitalismus die Care-Arbeit nicht fällt) zugeordneten Räumen erfolgte. Das verschwiegene, unterschätzte Private der weiblichen Sphäre aus der Versenkung hinauszukämpfen, setz(t)en sich die Frauenbewegungen zum Ziel. Das Private ist politisch – und das Kino konnte seinen eigenen Anteil daran nehmen: als eine Art Privatraum ermöglichte es Gegenbewegungen eine größere Öffentlichkeit zu erlangen. Als „Schwellenphänomen“ ohne Geschlechtertrennung formiert(e) sich Kino so als „Vorraum des politischen Handelns“ und als Alternative zu einer patriarchalen Öffentlichkeit, schreibt Schlüpmann. Dass das Kino als ein privater Raum seit Jahrzehnten um Anerkennung ringt, spiegele dasselbe Verhältnis wider, dem sich die Frauenbewegung widersetzte: „Der Mangel an Verständnis, an Anerkenntnis, wenn es um den Innenraum Kino geht, ist demjenigen ähnlich, der den privaten Raum betraf, und in beiden Fällen hatte der Mangel Folgen für den Bestand der Öffentlichkeit“. Technik und Wirtschaft haben durch ihre Bemächtigung des Kinoraums schließlich Anliegen der Kinobewegung verdrängt und ihn in seiner Wertigkeit auf seine monetäre Funktionsfähigkeit beschränkt.

Raumgeben schält politische Bedeutungsebenen des Kinos als Handlungs- und Erfahrungsraum, als Ort einer Formierung von Subjektivierung und Widerständigkeit heraus. Schlüpmanns Ausführungen entziehen sich dem Zwang einer eindeutigen Richtung oder Verwertbarkeit, die schreit – das ist Kino, so soll Kino, so retten wir Kino. Vielmehr greift sie zurück in vergangene Erfahrungswelten und bildet Querverbindungen zu philosophischen und soziologischen Ansätzen, die – von Rousseau und Kant über Freud, Bergson aber auch Marx, Arendt und Kracauer, Bazin und Balázs bis Hansen und zum Postfeminismus – stets den Geiste ihrer Zeit und deren jeweilige Entwicklungsphase bis zu unserer heutigen Form des Kapitalismus hin spiegeln. Mit verschiedensten Verzweigungen lässt sich über den Kinoraum reflektieren, sich gegen seinen Niedergang kämpferisch widerständig wenden, statt diesen nostalgisch-verträumt zu beweinen. Raumgeben – der Film dem Kino wirkt befreiend weil es Logiken herausgreift – von denen wir, der Film und das Kino im neoliberalen Marktkapitalismus durchdrungen sind – und in Zusammenhänge stellt: Gesellschaftsgeschichte, Film- bzw. Kinogeschichte und Theoriegeschichte bilden die Eckpfeiler von Schlüpmanns Schrift, in der sie auf viele ihrer Überlegungen im Laufe der zahlreichen Unterkapitel mehrfach rekurriert. Diese Repetitionen ermöglichen es, die Fülle an Ansätzen jedes Mal neu zu verbinden, sich wieder zu erinnern, neu zu denken und sich dem theoretischen und historischen Unterbau anzunähern, den Schlüpmanns jahrzehntelange Erfahrung als Kinogängerin und Theoretikerin mit sich bringen.

Bianca Jasmina Rauch
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