Berlinale 2017: Körper und Seele (Testről és lélekről)

Zwei lieblich schmusende Hirsche in einem märchenhaft verschneiten Wald – so begrüßt Regisseurin Ildikó Enyedi ihr Publikum im Berlinale-Wettbewerbsfilm On Body and Soul, nur um es umgehend, kaum dass es sich in diesen zärtlichen Bildern von bezaubernder Schönheit verloren hat, mit rücksichtsloser Direktheit in das Setting ihrer Haupthandlung zu werfen: einen Rinder-Schlachthof. Größer könnte der Kontrast nicht sein: Eben noch erschienen die Tiere menschlich beseelt, waren nicht als anonyme Wesen, sondern individuelle Personen erkennbar: Nun aber muss das Publikum mitansehen, wie Tiere, die doch eben noch menschlich waren, maschinell zerlegt werden. Blut fließt in Bächen auf den sterilen Untergrund, der nun den Waldboden ersetzt hat. Wo vorher Weite war, herrscht jetzt Enge. Wo vorher Freiheit war, herrscht Bedrängnis.

© Berlinale

Gefängnisse spielen in On Body and Soul eine Hauptrolle. Die Protagonist_innen sind in sich selbst gefangen, von Ängsten oder auch Leidenschaften getrieben, aber unfähig, sie zu externalsieren. Jede_r wählt einen anderen Ausweg. Der Personalchef schimpft auf Frauen*, um die Minderwertigkeitskomplexe gegenüber seiner Gattin zu kompensieren. Geschäftsführer Endre hat sich von den eigenen Mitarbeiter_innen weitgehend isoliert und ist im Grunde nur noch als Beobachter durch das „Fenster zum Hof“ präsent. Seine neue Angestellte, die Qualitätsprüferin Maria, hält die unkontrollierbare Welt durch ihre Zwänge und die unkontrollierbare Menschheit durch einen autistischen Rückzug im Zaum.

Auch auf der Bildebene dominieren „Gefängnisse“ die Leinwand. Ein Großteil der Handlung spielt in Innenräumen, die Kamera blickt durch Türen, Fenster oder auch Gänge. Der Fokus ist eng und auf das Detail gerichtet. Nur in den wiederholten Waldsequenzen zeigt sich wieder die anfängliche Weite. Und wir atmen auf. Es ist erholsam nach all dem Stress der Fabrikarbeit, der emotionalen Belastung des Schlachtbetriebs und der Beklemmung der kleinen Innenräume wieder im Märchenwald zu stehen.

Bald erfahren wir, dass es nicht nur uns so geht. Vielmehr handelt es sich bei den Szenen in der Natur nicht um Zäsuren, Handlungspausen, sondern um festen Bestandteil der Erlebniswelt von Maria und Endre. Es sind Traumbilder, Ausbrüche aus dem Alltag und der Isolation, die Flucht an einen Ort, an dem Begegnung wieder möglich wird. Wie scheue Rehe nähern sich die Protagonist_innen nun auch im Alltag einander an, vorsichtig, verängstigt, stets innerlich darauf vorbereitet, beim leisesten Geräusch erschrocken davon zu stürmen.

Wie noch vertrauen in dieser Welt voller Blut und Gewalt? Voller Lügen und Intrigen? Voller Sexismus und Diskriminierung? Der Fabrikbetrieb des Schlachthofes ist ein Mikrokosmos, in dem Alltags-Diskurse verhandelt werden, auch – aber nicht nur – bezüglich der Interaktion von Mann* und Frau*. Im Kern dreht sich On Body and Soul bedauerlich stark um die Frage nach Männlichkeit, was bereits durch das imposante Hirschgeweih des tierischen Helden angedeutet wird. Verschiedene Männer* versuchen sich zu behaupten – der eine durch platte Anmachversuche, der andere durch aphrodisierendes Doping und der letzte durch Weltflucht und Imagination in einen mächtigen animalischen Stellvertreter. Das Tier wirkt menschlich, der Mensch animalisch und beide verschwimmen untrennbar miteinander, so dass der maschinelle Schlachtbetrieb schließlich noch barbarischer wirkt als zu Beginn.

Es würde Ildikó Enyedi und ihrem Film jedoch Unrecht tun, das Thema Männlichkeit zum Kern der Geschichte zu erklären. Denn weniger als um eine konkrete geschlechtliche Identität, geht es um das Begreifen, des eigenen Selbsts. Die Frage „Wer bin ich?“, so legt On Body and Soul nahe, kann nur mit Hilfe eines Gegenübers, eines anderen beantwortet werden. Und wie jeder Akt der ehrlichen Selbsterkenntnis erfordert auch dieser großen Mut.

Und so erzählt uns Ildikó Enyedi eine berührende, zuweilen bitter-komische und surreale Liebesgeschichte. Die Story mag nicht innovativ, nicht besonders ungewöhnlich sein, doch wird hier eine bekannte Mär auf eine neue Art und Weise erfahr- und fühlbar. On Body and Soul ist ein Film, der auf vielen verschiedenen Ebenen funktioniert, der die Sinneserfahrungen seiner Held_innen zu illustrieren vermag, in dem er die unterschiedlichsten Sinne der Zuschauer_innen anspricht. On Body and Soul ist nicht einfach nur ein Film, On Body and Soul ist echtes Kino.

Sophie Charlotte Rieger
Letzte Artikel von Sophie Charlotte Rieger (Alle anzeigen)