Joy
Anhand der fiktiven Geschichte von Joy (Joy Anwulika Alphonsus) zeigt Sudabeh Mortezai in ihrem semidokumentarischen Spielfilm die Ausbeutung nigerianischer Sexarbeiterinnen in Wien. Joy wurde bereits vor längerer Zeit von ihrer Familie nach Europa geschickt, die Schulden an die Schlepper und den Unterhalt ihrer Familie zahlt sie mit ihrer Arbeit auf dem Straßenstrich ab. Die Einnahmen kontrolliert ihre Zuhälterin, die Madame, die außerdem ihren Reisepass einbehält. Kurz bevor sie sich freikaufen kann, überträgt die Madame ihr die Verantwortung für Precious (Precious Mariam Sanusi), für die sich die Geschichte wiederholt. Auf diese Weise kann Joy einen kompletten Zyklus der Ausbeutung abbilden.
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Ein Ausweg ist nicht in Sicht und die Hoffnung auf ein Happy End angesichts der starken und verflochtenen Abhängigkeiten unangebracht. Joys Pflichtgefühl gegenüber der Familie und der Glaube an ein Vodoo-Ritual, den Juju-Schwur, der die Frauen* zu Gehorsam verpflichtet, sowie ihr Status als Illegalisierte ohne Ausweisdokumente hindern sie an einem Ausbruch. Der einzige Ausblick, den der Film auf das Danach eröffnet, ist es, selbst Madame zu werden und sich wiederum an dem Ausbeutungskreislauf zu beteiligen. Entsprechend düster ist die Grundstimmung des Films. Auch wenn sich der Ausgang der Geschichte recht vorhersehbar gestaltet, bleibt der Film durch seine Figuren spannend. In ihrem Miteinander ist trotz der Konkurrenz Raum für farbenfrohe und fröhliche Momente in der Kirchengemeinde oder in der Gemeinschaftsunterkunft – kleine Gesten der Solidarität, auch wenn zum Schluss jede auf sich gestellt ist.
Joy ist ein eindrücklicher Film, der ohne viel Staffageauskommt. Es gibt keine Filmmusik und nur die allernotwendigsten Dialoge werden geflüstert. Wie bei einer Reportage bleibt die Kamera stets dicht an den Protagonist_innen. In langen Einstellungen zeigt der Film Alltagssituationen: der Straßenstrich, die Unterkunft, der Telefonshop, die Kirchengemeinde. Die Inszenierung lässt unverkennbar die Erfahrungen Sudabeh Mortezais im Dokumentarfilm durchscheinen. Die Laienschauspieler_innen hat sie überwiegend in der nigerianischen Community Wiens gecastet, einige teilen die Erlebnisse der Filmfiguren. Joy Anwulika Alphonsus und Precious Mariam Sanusi standen für den Film erstmalig vor einer Kamera. Umso beeindruckender ist ihre überzeugende schauspielerische Leistung.
Sudabeh Mortezai strebt eine möglichst authentische Darstellung ohne Dramatisierung oder Wertung an, weshalb die Regisseurin viel Zeit in Recherche investierte. Leider gelingt es ihr nicht immer, dieses Hintergrundwissen auch durch den Film zu vermitteln. Mortezai zeigt beispielsweise eine gynäkologische Untersuchung, ohne deutlich zu machen, dass es sich um eine verpflichtende Gesundheitsuntersuchung für Sexarbeiter_innen handelt. Amtsärzt_innen, die diese Untersuchungen durchführen, müssen die Daten ihrer Patient_innen an die zuständigen Behörden weitergeben. Wenn eine Erkrankung festgestellt wird, gibt es keine Möglichkeit weiterhin legal Sexarbeit nachzugehen. Für illegalisierte Migrant_innen wie Joy ist es in der Realität aber kaum möglich, Zugang zu dieser Untersuchung oder anderer Gesundheitsversorgung zu erhalten.
Trotz der Recherche und einer Einbindung der nigerianischen Community, arbeitet Sudabeh Mortezai an einigen Stellen mit stereotypen Repräsentationen von Sexarbeiter_innen, wie sie leider häufig in Filmen vorkommen. Sowerden Sexarbeiter_innen in der Regel als Opfer visuell auserzählter sexualisierter Gewalt dargestellt. Auch in Joy findet eine als Strafe durch die Madame angeordnete Vergewaltigung statt, sowie eine Gruppenvergewaltigung auf dem Straßenstrich. Immerhin werden diese Vergewaltigungen nicht bildlich dargestellt. Mortezai erzählt sie indirekt mittels der Reaktionen von Zeuginnen und im zweiten Fall durch die sichtbaren Auswirkungen auf die Betroffene. Das problemaitsch Klischee der Verknüpfung von sexualisierter Gewalterfahrung und Sexarbeit bleibt jedoch bestehen.
Ein weiteres Problem der Repräsentation von Sexarbeiter_innen stellt die Reduktion auf ihre Arbeit dar. Die Hintergrundgeschichten der Frauen* dienen nur dazu, ihre Abhängigkeiten von der Familie, ihre Angst vor den Behörden oder ihre finanzielle Notlage zu begründen.
Zudem wiederholt Mortezai das Motiv des finanzstarken “white savior”, also des weißen männlichen* Retters, der die Sexarbeiterin aus ihrem Schicksal befreit.
All diese Narrative sind nicht ohne reale Grundlage, aber es ist dennoch schade, dass Mortezai die Dynamiken des Menschenhandels anhand bekannter Motive stark vereinfacht anstatt Stereotypen in Frage zu stellen . Vor allem wäre es wünschenswert gewesen, den zentralen Frauen*figurenmehr Individualität und Komplexität zu verleihen.
Trotz der Kritikpunkte kann Joy eine interessante, wenn auch nicht in allen Punkten neue, dafür aber in der Mischform aus Dokumentar- und Spielfilm brilliant umgesetzte Perspektive bieten. Mit dem annähernd dokumentarischen Stil trifft der Film genau den richtigen Ton, um ein so komplexes und voruteilsbehaftetes Thema aufzugreifen. Zuschauer_innen müssen sich ernsthaft mit der Situation der von Menschenhandel betroffenen Protagonistinnen auseinandersetzen. Zugleich verzichtet Mortezai auf Effekthascherei oder Skandalisierung.
Damit verschafft die Regisseurin den Sexarbeiter_innen und ihren Erlebnissen Sichtbarkeit. Gesellschaftliche Tabus und Kriminalisierung führen zu Stigmatisierung und Objektifizierung und drängen diese Menschen nach wie vor in den Untergrund. Dass Sexarbeiter_innen im Mittelpunkt einer Geschichte stehen und ein Film über Menschenhandel bei Netflix für ein Massenpublikum leicht zugänglich ist, können wir trotz aller Kritikpunkte als Gewinn werten.
Sudabeh Mortezai lässt sich außerdem nicht auf eine Polarisierung zwischen Prostitutionsgegner_innen und Befürworter_innen von Sexarbeit ein. Die Frauen* im Film sind weder Opfer, noch verklärt Mortezai ihre Situation. Gewalt ist omnipräsent, wird aber bildlich nicht ausgeschlachtet. Der Film beschäftigt sich eindeutig mit Menschenhandel und thematisiert das Zusammenspiel verschiedener Ausbeutungs- und Kontrollmechanismen durch die Familie, die Schleuser, die Madame, die österreichischen Behörden. Auf dieser Grundlage ist eine differenzierte Auseinandersetzung mit Menschenhandel und unterschiedlichen Hintergründen von Sexarbeit möglich.
Ursula Probst hat für diesen Text hilfreiche Hintergrundinformationen über Sexarbeit und die Repräsentation von Sexarbeiter_innen in den Medien zugeliefert. Sie promoviert derzeit am Institut für Sozial- und Kulturanthropologie der FU Berlin zum Thema Sexarbeit.
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