Reise nach Jerusalem
von Leena M. Peters
„Und was machst du zurzeit?“ Alice Lidell (Eva Löbau) hat vor zwei Jahren ihre feste Stelle verloren, die nun eine Praktikantin ausfüllt, und bemüht sich seither um eine neue Festanstellung. Auf die Frage nach ihrer Beschäftigung antwortet sie mechanisch: Sie betreue als freie Texterin und Redakteurin verschiedene Kunden. Tatsächlich schreibt sie Bewerbungen, probt Gespräche vor dem Spiegel und verdingt sich bei der Marktforschung, die sie nur mit Tankgutscheinen entlohnt. In Reise nach Jerusalem versucht Alice, trotz Geldmangel und Scham, den sozialen Anschluss nicht zu verlieren, doch dabei geht ihr langsam, aber sicher der permanent geforderte Optimismus aus.
“Das bin ja ich!”, dachte ich als erstes, als ich die Beschreibung von Reise nach Jerusalem las. Und tatsächlich traf dieser Film so genau mein derzeitiges Lebensgefühl, dass ich mehrfach bei den tragikomischsten Szenen in Tränen ausbrach. „Arbeitslose Akademikerin bewirbt sich erfolglos, nennt sich selbständig und versucht, ihrem Leben mit To-Do-Listen Sinn und Struktur zu geben“ – schon diese grobe Beschreibung trifft auf mich ebenso wie auf die Protagonistin Alice zu. Wo sich das Erleben der fiktiven Figur mit meinen realen Erfahrungen und Empfindungen überschneidet, liegt die Wahrheit über die Gesellschaft, in der wir leben. Möglicherweise aus eigenen Erfahrungen, ganz sicher jedoch mit ausgezeichneter Beobachtungsgabe für die Details erzählt die gebürtige Italienerin und Wahl-Berlinerin Lucia Chiarla hier aus dem Leben des „Kreativen Prekariats“, zu dem auch ich zähle.
Das Wetter ist grau, die Menschen sind unsensibel, Bürokratie beherrscht die Welt, das Leben ist trist und frustrierend – in Reise nach Jerusalem, vor allem für die arbeitslose Alice. Die Regisseurin platziert die Menschen oft am unteren Bildrand, lässt weite, weiße Räume über ihnen hängen, und bringt damit trefflich die erdrückende Leere zum Ausdruck, die die Arbeitslosigkeit in Alices Leben schafft: Keine konkreten Aufgaben, keine konkreten Pläne, unsichere Zukunft, unklare Existenzberechtigung. Immer wieder muss sich Alice nach oben strecken, immer wieder sackt sie auf ihrem defekten Bürostuhl nach unten, immer wieder erreicht sie einen Platz nicht oder weiß nicht wohin. Die zahllosen Telefonwarteschleifen, in denen Alice bei potentiellen Arbeitgebern ebenso wie bei ihrer Telefongesellschaft hängt, machen die Musik dazu.
Eva Löbau spielt die zunehmend Frustrierte mit gehemmter Mimik und verkrampfter Gestik, sie lächelt verhalten oder gekünstelt und verliert dabei nie die Angst in den Augen. Alice leidet sichtlich darunter, wie sehr sich Gespräche um berufliche Leistung drehen (als sei diese ein Existenzbeweis oder gar eine Existenzberechtigung) und wie viele soziale Interaktionen in Räumen stattfinden, die das Vorhandensein von Geld voraussetzen – und wie sehr diese Tatsachen ihr das Gefühl des Abgehängtseins vermitteln, weil sie beides nicht vorweisen kann. Zwischendurch brechen sich die mühsam beherrschten Gefühle Bahn, wenn Wut oder Enttäuschung zu groß werden und Alice Dampf ablässt, den Bürostuhl zusammentritt oder sich auf der Party beim Nachbarn betrinkt. Es sind diese Momente des Loslassens, die Alice die Sympathie des Publikums sichern: Sie gewähren einen Blick hinter die steife Fassade, mit der Alice versucht, bei Bewerbungen möglichst nicht anzuecken.
Bei Freund_innen und Familie besteht keinerlei Sensibilität für ihre emotionale und wirtschaftliche Notlage. Gleichzeitig ist die arbeitslose Alice außerstande, sich ehrlich mitzuteilen, weil die Enthüllung ihrer Not die anderen ebenso wie sie selbst peinlich berühren würde. Diesem Dilemma gibt Eva Löbau ein Gesicht und kann auch den moralisch fragwürdigen Entscheidungen Alices, wie Schwarzfahren und Keksklau, Menschlichkeit verleihen. Ja, nach der Ausgrenzung und den kafkaesken Versuchen, aus Sachwerten Geld zu machen, fühlen sich diese Ordnungswidrigkeiten sogar wie kleine Erfolge an.
Reise nach Jerusalem erzählt eine vermeintlich individuelle Biografie, doch anhand dieser einzelnen Lebensgeschichte nimmt sich Lucia Chiarla einer viel größeren und oftmals unterrepräsentierten Perspektive an, nämlich der arbeitsloser Menschen, für die das Leben ein andauerndes Ringen um Teilhabe ist – und ein beständiges Scheitern daran. Die fiktive Alice lebt in einer Gesellschaft, die ich real genauso erlebe, nämlich eine, in der meine Identität von meiner beruflichen Leistung abhängig ist, während Leistung am dafür bezahlten Geld gemessen wird und damit im Zirkelschluss der Wert meiner Person darüber definiert wird, wieviel Geld mir zur Verfügung steht. „Machste was, biste was, haste was“, so muss der alte Spruch heute erweitert werden, vor allem für das bürokratische System der Arbeitsvermittlung, die die Verweigerung von blindem Aktionismus mit finanziellen Sanktionen bestraft. Der Sinn des Lebens, so der Grundtenor der allgegenwärtigen Erwartungen, ist das Tun. Dabei die Frage nach dem Nutzen zu stellen, ist uns Arbeitssuchenden nicht gestattet, ebenso wenig wie wir uns erlauben dürfen, den Optimismus zu verlieren – trotz der andauernden Ablehnungen, trotz des Geldmangels, trotz der Isolation, die sich immer weiter verschärft. Die Absurdität dieses aktionistischen Glaubens findet in Reise nach Jerusalem ihren emotionalen Höhepunkt, als Alice vor einem Geldautomaten steht, obwohl ihr Konto gesperrt ist, und darauf beharrt: „Ich mach das jetzt so lange, bis was passiert! Und es wird jetzt auch gleich was passieren!“ Ein treffenderes Bild für das Leben als Arbeitslose kann es nach meinem Empfinden kaum geben.
Was in diesem beständigen Tun, Machen und Streben gänzlich vergessen wird, ist das einfache Dasein, das nicht nach einer Berechtigung oder einem Sinn fragt. Im Arbeitsleben erfahren wir diesen Zustand der reinen, ziellosen Existenz am ehesten in der Freizeit oder im Urlaub, als Arbeitslose jedoch scheinen wir das Recht darauf verwirkt zu haben; vom „Nichts-Tun“ brauchen wir angeblich keine Erholung. Auch Alice erlaubt sich erst am Ende, aus der Zwangsjacke der allgegenwärtigen Erwartungen zu schlüpfen. In einer Kneipe im Nirgendwo, wo niemand sie kennt und nichts von ihr erwartet wird, hat sie endlich auch mal wieder ein Erfolgserlebnis. Mit diesem versöhnlichen Ende schenkt Lucia Chiarla Alice, mir und eigentlich uns allen die Freiheit, nicht immer tun zu müssen, sondern einfach sein zu dürfen.
DVD-Veröffentlichung: 17. Mai 2019
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- Zu Weit Weg - 11. März 2020
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