In einem Land, das es nicht mehr gibt

Suzie (Marlene Burow) folgt dem Leitspruch ihrer verstorbenen Mutter: „Nur wenn wir träumen, sind wir frei.” Kurz vor dem Abitur zerplatzt jedoch ihr großer Traum vom Literaturstudium, weil sie mit dem in der DDR verbotenen Buch 1984 von George Orwell erwischt wird und eine Ausbildung als Zerspanungsfacharbeiterin im Kabelwerk Oberspree antreten muss. Als sie durch einen zufälligen Schnappschuss auf dem Weg zur Arbeit von der Modezeitschrift Sibylle entdeckt wird, eröffnet sich Suzie ein Ausweg aus der Tristesse der volkseigenen Produktion. In einem Land, das es nicht mehr gibt taucht in die Welt der Mode im Ostberlin Ende der 1980er Jahre ein, die Regisseurin Aelrun Goette selbst als Mannequin erlebt hat. Sie erzählt mit dem Film einen Teil ihrer Lebensgeschichte und widmet sich einer Facette der ostdeutschen Geschichte, die in der Geschichtserzählung irgendwo zwischen Stasi-Akten und Bananenwitzen verloren gegangen ist.

© Ziegler Film/TOBIS/ Peter Hartwig

Aelrun Goette inszeniert Widersprüchlichkeiten und Brüche innerhalb des Systems der DDR. Bei einem Fotoshooting im Kabelwerk treffen Seidenkleider auf Blaumänner. In einem Land, das es nicht mehr gibt begnügt sich jedoch nicht mit der oberflächlichen Gegenüberstellung von Pragmatismus vs. Schönheit. Suzie erlebt die staatlich verordnete Kollektivität an ihrem Arbeitsplatz als Belastung. Düstere Aufnahmen von Fabrikhallen und Aufenthaltsräumen unterstreichen die Trostlosigkeit und vermitteln ein Gefühl der Enge. Doch auch in den lichtdurchfluteten Redaktionsräumen der Sybille erlebt Suzie Konkurrenzdruck und Leistungszwang. Die staatliche Kontrolle reicht bis auf den Laufsteg.

© Ziegler Film/TOBIS/ Peter Hartwig

Zuflucht bietet ihr schließlich die Ostberliner Avantgarde-Szene, die Kreativität und Selbstverwirklichung feiert. Hier lernt Suzie, dass die eigentliche Freiheit in der Subversion liegt. Ihr Mentor Rudi (Sabin Tambrea) ist queer, obwohl es diesen Begriff 1989 so noch nicht gab und Homosexualität in der DDR verfolgt und aus der Öffentlichkeit verdrängt wurde. Die omnipräsente Frage, ob er in den Westen fliehen möchte, beantwortet er mit „Entweder du bist frei, dann bist du es überall. Oder du bist es nicht, dann nützt dir auch der Westen nichts.“ Dieses Freiheitsverständnis findet sich auch in der Mode, die Rudi gemeinsam mit  Feund:innen kreiert. Ihre Entwürfe entziehen sich jedweder Verwertungslogik. Nur zum Vergnügen fertigen sie ihre eigene Kollektion aus Leichensäcken, Duschvorhängen oder anderen Materialien und präsentieren die Stücke in einer surrealen Modenschau.

© Ziegler Film/TOBIS/ Peter Hartwig

In einem Land, das es nicht mehr gibt würdigt die Subkultur ebenso wie die Staatsmode, die die Sibylle präsentierte. Bei einem Film über Mode verdient das Kostümdesign unter der Leitung von Regina Tiedeken besondere Aufmerksamkeit. Einige Stücke sind Originale, andere entwarf Designerin und Dozentin Grit Seymour mit ihren Studierenden nach dem Vorbild ostberliner Avantgarde-Mode in den 1980ern. Diese Mischung aus Authentizität und Kreativität transportiert die besondere Ästhetik beider Welten.

© Ziegler Film/TOBIS/ Peter Hartwig

Leider setzt In einem Land, das es nicht mehr gibt diese sorgfältige Ausgestaltung nicht in der Entwicklung der Protagonist:innen fort. Im Vergleich zu ihrer Lebenswelt bleiben die Charaktere zumeist eindimensional. Ihr Antrieb ist das Streben nach Freiheit und Selbstverwirklichung. Das ist durchaus einleuchtend und doch fehlt eine Vermittlung, wie diese großen Ideen sich auf Individuen und ihre Beziehungen zueinander auswirken. Suzie durchlebt eine klassische Coming of Age Geschichte. Eingangs beschreibt der Film eine enge Beziehung zu ihrer Schwester. Auf der Suche nach ihrem eigenen Weg, nabelt sie sich zunehmend von ihrer Familie ab. Einzelne Szenen zeigen die daraus resultierenden Konflikte, diese nehmen jedoch keinen weiteren Einfluss auf die Handlung. Mit dem Fotografen Coyote (David Schütter) erlebt Suzie ihre erste Liebe. In einem Land, das es nicht mehr gibt umreißt seine Figur als talentierten Freigeist, der im Konflikt zum SED-Regime steht. Ohne tiefere Einblicke in seine Gefühlswelt bleibt Coyote das Klischee eines Rebellen mit Motorrad und Lederjacke.

© Ziegler Film/TOBIS/ Peter Hartwig

Die DDR ist inzwischen seit über 30 Jahren ein Land, das es nicht mehr gibt. Der Verlag stellte die Sibylle 1994 ein. Gerade in Westdeutschland dürfte die Erinnerung an eine Modeszene im Osten verschwindend gering sein. In einem Land, das es nicht mehr gibt zeigt ein lebendiges, kreatives Ostberlin mit Widersprüchen und Ambivalenzen und erweitert den Blick auf die DDR.

Kinostart: 06.10.

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