Im Käfig von Tradition: Ein Blick auf ‚The Cage Is Looking for a Bird‘

Die Sektion Encounters der Berlinale zeigte im Jahrgang 2023 den Debütspielfilm einer jungen Regisseurin tschetschenischer Herkunft: – The Cage Is Looking for a Bird von Malika Musayeva. Musaeva stammt aus einer Familie, die vor dem Tschetschenienkrieg von Grozny geflohen ist. 2003 kehrte sie nach Russland zurück, wo sie den Workshop des renommierten russischen Filmregisseurs Alexander Sokurov absolvierte – ein Projekt, das junge Regisseur*innen mit einer neuen Perspektive fördern soll. The Cage Is Looking for a Bird war der erste tschetschenischsprachige Film, der auf dem Festival gezeigt wurde. Alle Darsteller*innen des Films sind Lai*innen und Bewohner*innen des Dorfes, in dem der Film gedreht wurde. Die Dreharbeiten fanden allerdings nicht in Tschetschenien, dem Ort der Handlung, sondern in Inguschetien, einer benachbarten Region, statt. In keinem tschetschenischen Dorf, das die Regisseurin und der Producer auf der Suche nach einem Drehort besuchten, konnten sie die Bewohner*innen davon überzeugen, an einem solchen Projekt teilzunehmen. 

© Hype Studios

Die Republik Tschetschenien ist eine Region der Russischen Föderation im Nordkaukasus, die überwiegend von ethnischen Tschetschenen bewohnt und durch die traditionelle muslimische Kultur und Werte geprägt ist. Nach dem Zusammenbruch der UdSSR entstand in Tschetschenien eine separatistische Bewegung, die in den 1990er Jahren durch zwei blutige Kriege unterdrückt wurde. Seitdem regiert die Familie Kadyrow autoritär die Republik (zuerst Vater Achmat, jetzt sein Sohn Ramzan). Die Einhaltung der russischen Gesetze und der Menschenrechte ist auf dem Gebiet Tschetscheniens nicht gewährleistet: Ehrenmorde und das “Verschwinden” von Personen sind dort keine Seltenheit. 

Im Film geht es aber nicht um “verschwundene Personen” oder Ehrenmorde, sondern die Handlung dreht sich um das ganz alltägliche Leben von Yakha, die kurz vor dem Abschluss ihrer Schulzeit steht. Nach der Schule möchte Yakha weggehen, um zu studieren – es wird nie ausdrücklich erwähnt, wohin, aber fast alle Personen im Film möchten weggehen, können aber nicht. Auch Yakha soll gemäß der Tradition einen Mann heiraten, den ihre Tante im Laufe des Films für sie findet. Welche Möglichkeiten hat sie dann? Der Film zeigt uns die Schicksalvarianten, die für Frauen verfügbar sind: Yakhas Schwester Fatima leidet in einer unglücklichen Ehe, die sie wegen ihres Kindes nicht verlassen kann, und ihre Freundin Madina beschließt, mit einem selbst gewählten Jungen durchzubrennen, um ihn zu heiraten und dann wegfahren zu können. Schließlich versucht auch Yakha selbst zu fliehen – bloß mit dem Bus wegzufahren. Im Endeffekt heiratet Madina tatsächlich den Jungen, aber seine Eltern lassen das Paar nicht ausziehen. Und Yakha wird ohne Pass nicht in den Bus  zugelassen, während ihre Schwester, die gekommen ist, um sie abzuholen, sie zur Rückkehr überredet. In diesem Fall ist die intersektionale Diskriminierung besonders spürbar. Wir sehen zwar, dass auch die Männer des Dorfes benachteiligt werden (Yakhas Freund Ibrahim will ebenfalls weggehen, muss aber bleiben, um seinem Vater zu helfen). Die Heldinnen des Films werden aber doppelt diskriminiert: als Frauen in einer traditionellen Gemeinschaft und auch als Angehörige einer ethnischen Gruppe. Schließlich ist es eine (vermutlich russische) Frau, die Yakha keine Busfahrkarte verkauft. 

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Der Titel des Films The Cage Is Looking for a Bird verweist auf ein Zitat aus Kafkas Der Prozess und könnte als Substitution von Inhalt durch die Form interpretiert werden, die keinen Sinn mehr ergibt. Es ist nicht mehr klar, wer die Traditionen und Normen braucht, die in der Gesellschaft endlos reproduziert werden. Es sind die Menschen, die sich an Gesetze und Normen anpassen, nicht die Gesetze und Normen an die Bedürfnisse der Menschen. In diesem Kontext fällt im Film bemerkenswert die Abwesenheit des ‚Käfigs‘ selbst auf – also von mächtigen männlichen Figuren – was den Fokus auf die weiblichen Erfahrungen verstärkt. Wir sehen tatsächlich keinen einzigen Vater oder Ehemann – natürlich gibt es Jungen, sogar einen Taxifahrer usw., aber niemals sehen wir einen Mann mit Macht, der diese Macht ausübt. Es ist kein Zufall, dass auch Madinas Auserwählter aus dem Bild verschwindet, wenn er ihr Ehemann wird. Wir sehen also eine Welt aus Kindern und Frauen. Aber diese Welt ist alles andere als frei und offen. Alle Einschränkungen, alle Belehrungen im Film werden von den Frauen selbst ausgeübt – und zwar von denen, die unter dem System gelitten haben wie Yakhas Mutter, von denen, die jetzt leiden wie Fatima, oder von denen, die in Zukunft leiden werden wie Madina. So agieren sie als Kollektiv, als ein einziger Mechanismus, in dem es eine verzerrte Solidarität gibt: Yakhas Freundin Madina vereitelt deren Fluchtversuch und ihre Schwester überredet sie zur Rückkehr.

© Hype Studios

Die Szenen aus dem Alltagsleben dieser Welt von Kindern und Frauen sowie die Interaktionen zwischen Yakha und Madina, als die Mädchen auf den Feldern herumlaufen, spielen oder einfach nur herumliegen, zeigen uns aber durchaus Akte von Befreiung. In der tschetschenischen Kultur ist es nämlich für ein Mädchen in der Öffentlichkeit verboten, herumzualbern, offen zu lachen oder mit unbedecktem Kopf zu spazieren. Wir sehen also etwas, was öffentlich nicht gesehen werden darf. Und die sanften Pastellfarben des Films sowie das ungewöhnliche Format mit abgerundeten Kanten – wie bei alten Fotografien – verleihen dem Bild die elegische Note persönlicher Erinnerungen. Der Film zeigt uns mit dieser Optik  die Mädchen selbstständiger und vollständiger, als sie erscheinen dürften, sowie natürlicher und freier, als sie sein dürften. In diesem Fall haben wir es mit einem weiblichen Blick (also female gaze in der Perspektive von Laura Mulvey) zu tun – dem Blick der Regisseurin, die die Heldinnen als Menschen sieht. Die Kamera von Dmitriy Nagovskiy interessiert sich also für sie und ihre Interaktionen. Aber es gibt noch einen anderen weiblichen Blick in dem Film – einen Blick nach unten – und es ist der Blick der Heldinnen selbst, der Protagonistinnen dieses Films. Die Regisseurin erinnert in einem Interview daran, dass Laiendarsteller*innen eine besondere Plastizität und Natürlichkeit erzeugen, die manchmal auch die ursprüngliche Idee verändern können. Zum Beispiel konnten die Darstellerinnen, denen das Drehbuch vorschrieb, in die Augen des Szenenpartners zu schauen, dies nicht tun und spielten daher mit Blick auf den Boden. Dieser Blick des Wegschauens oder Herunterschauens spielt im Film eine große Rolle. Wenn wir Frauen in der Öffentlichkeit sehen, schauen sie oft nach unten. Vielleicht zeigt der Film auch deswegen keine männlichen Figuren, weil die Frauen ihren Blick auf diese nicht erheben können?

Wenn die Kunst ein Spiegel des Lebens sein soll, dann ist der Film erfolgreich: Die ganze Geschichte spiegelt sich dramatisch im Leben der Darstellerin wider, die Yakha verkörperte. Nachdem sie die endgültige Fassung gesehen hatte, waren weder sie noch ihre Freundin, die Madina darstellte, zufrieden, und die Darstellerin von Yakha legte bald darauf einen Hijab an, heiratete und schottete sich ab. Nie wieder wird sie in Filmen mitspielen. Der Regisseurin zufolge hoffe sie nur, dass niemand in Tschetschenien den Film sieht, damit er den Mädchen nicht schadet.

Dieser Artikel entstand im Rahmen des Seminars „Film und Feminismus“ an der TU Berlin im Sommersemester 2024 unter der Leitung von Filmlöwin-Gründer*in Sophie Charlotte Rieger.

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Über die Gastlöw*in: 

Varvara Danilova hat Journalistik in Moskau studiert und macht jetzt ihren Master in Medienwissenschaft an der TU Berlin. Sie spezialisiert sich zwar nicht auf Filmanalyse, interessiert sich aber für die politischen und postkolonialen Kontexte in verschiedensten Medien und Kommunikationsbereichen.