Gast-Löwin: Warum wir mehr Filme wie How to Have Sex brauchen 

CN: Vergewaltigungen, sexuelle Gewalt 

How to have Sex ist ein so notwendiger wie unangenehmer Film. Er erzählt die Geschichte der 17-jährigen Britin Tara (Mia McKenna-Bruce), die mit ihren besten Freundinnen Em (Enva Lewis) und Skye (Lara Peake) nach ihren Abschlussprüfungen in Urlaub auf die Insel Kreta fährt. Dort tauchen sie ein in das pochende Nachtleben des neonleuchtenden Ferienort Malia, wo Alkohol frei fließt und Sex allgegenwärtig ist. Für Tara verwandelt sich der Urlaub allerdings zu einem Albtraum: Sie ist noch Jungfrau und steht unter Druck, endlich ihr erstes Mal zu haben. Doch die ersten sexuellen Erfahrungen, die sie dort hat, sind weder respektvoll noch gewollt oder einvernehmlich. Während die Party weitergeht, wird Tara durch den sexuellen Übergriff und der damit einhergehenden Entfremdung erdrückt.

© Capelight / Nikolopoulos Nikos

Mit ihrem Regiedebüt How to have Sex gelingt der britischen Regisseurin Molly Manning Walker damit eine der realistischsten Darstellungen sexueller Gewalt und der sie systematisch ermöglichenden Rape Culture (Vergewaltigungskultur) der letzten Jahre. Der Film hält Zuschauenden einen Spiegel vor, der eine hässliche Wahrheit offenbart. Eine Leistung, für die Walker auf dem Cannes Filmfestival 2023 zurecht den Preis für die Kategorie „Un certain regard” gewann. 

In vielen Kritiken englischer Medien, wo der Film schon am 3. November erschienen ist, heißt es, dass der Film die „Grauzonen” sexueller Gewalt beleuchtet. Die GQ bezeichnet den Film als „eine stille, revolutionäre Studie von Begehren und Consent und ihren manchmal traumatisierenden Grauzonen.“(Original: “a quietly revolutionary take on desire and consent, and their sometimes traumatising grey areas”) Im Guardian heißt es in einem Kommentar zu dem Film: „Consent ist zweideutig. Der Film zeigt, dass die Postsex-Phase in Taras Kopf aus einer inneren Verhandlung besteht: Soll sie vergessen und einfach weitermachen?“ (Original: “Consent is ambiguous. The film shows that the post-sex phase in Tara’s mind is perhaps composed of an inner negotiation: should she forget it and move on? “).

Natürlich ist Consent nie zweideutig und es gibt keine Grauzonen, wenn es um sexuelle Gewalt geht. Solche Aussagen sind Teil des Problems und der Grund, warum sich gesellschaftliche Vergewaltigungsmythen weiterhin so hartnäckig halten. Die Ambiguität, auf die in diesen Kommentaren angespielt wird, bezieht sich auf die Tatsache, dass Tara sich freizügig kleidet, dass sie teilweise nach Sex sucht, dass sie begehrt werden möchte und in der ersten sexuellen Begegnung nicht explizit „nein“ sagt. Hinzu kommt, dass Taras Vergewaltiger nicht unserer Auffassung eines Sexualstraftäters entspricht. Er ist jemand, den man im Urlaub kennenlernt, ein Junge von nebenan. „Ich kenne ihn schon, seit meiner Kindheit“, sagt sein Kumpel Badger (Shaun Thomas) am Ende des Films zu Tara. Er scheint zu ahnen, was passiert ist. Doch die Implikation seiner Aussage ist klar: Er ist ein guter Freund, ein guter Mensch — so etwas würde er nicht tun. Er hat es aber eben getan. Die Tatsache, dass Tara am Anfang an ihm interessiert war, vielleicht sogar Sex mit ihm wollte, ändert nichts an der Tatsache, dass es sich hier um eine Vergewaltigung handelt. Der Film stellt nicht dessen Ambiguität dar, sondern zeigt eher, wie eine Kultur dazu beiträgt, sexuelle Gewalt in diesem Licht erscheinen zu lassen. 

© Capelight / Nikolopoulos Nikos

Der Film, so erklärte Manning Walker kürzlich in einem Interview, basiert lose auf realen Erlebnissen. Im Grunde ließe sich aber sagen, dass er eine wahre Geschichte erzählt: Die regelrechte Unerträglichkeit des Films rührt daher, dass die Ereignisse extrem realistisch wirken. Es ist leicht, sich in der Figur Taras und ihrer jugendlichen Naivität und Unsicherheit wiederzufinden. Einer Studie des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend  (BMFSFJ) hat gezeigt, dass etwa 40 % der Frauen in Deutschland, seit ihrem 16. Lebensjahr körperliche und/oder sexuelle Gewalt erlebt haben. Einer Studie der Agentur der Europäischen Union für Grundrechte (FRA) zufolge sind es sogar 60 %. Täter sind in den meisten Fällen Bekannte, Freunde oder Partner, also Männer, die den betroffenen Frauen nahestehen. Die Dunkelziffer hier ist groß: Die meisten Fälle werden nie angezeigt und enden für Täter konsequenzlos. 

Auch Taras Vergewaltiger muss sich am Ende des Films nicht für seine Tat verantworten und verlässt den Urlaub gut gelaunt, mit dem Vorhaben nächstes Jahr wiederzukommen. Tara erzählt Em erst am Flughafen, was passiert ist. „Du hättest etwas sagen sollen“, antwortet diese sofort. Doch die Frage ist nicht, ob sie etwas hätte sagen sollen, sondern vielmehr, ob sie etwas hätte sagen können. Im Partyurlaub in Malia ging es schließlich um Spaß, darum, den Urlaub ihres Lebens zu haben. Wo wäre da Platz, um anzusprechen, was passiert ist? Und wie lässt sich überhaupt über eine Situation sprechen, dessen Bedeutung sich einem entzieht? Für die es gesellschaftlich auch keine richtigen Worte gibt? Kurz zuvor hatten Skye und Em sie schließlich noch dafür gefeiert — waren regelrecht stolz auf sie — endlich ihre ersten sexuellen Erfahrungen gemacht zu haben. Und obwohl Tara sich am Ende des Urlaubs offensichtlich zurückzieht, merken ihre Freundinnen nicht, dass etwas nicht stimmt. Während sie mit Em redet, wird deutlich, wie schwer es Tara fällt, das Erlebte zu artikulieren. 

© Capelight / Nikolopoulos Nikos

Ihr Schweigen, die regelrechte Unmöglichkeit zu sprechen, ist kulturell bedingt. Grund dafür ist besonders das gesellschaftliche Verständnis darüber, was sexuelle Gewalt eigentlich ist: „Tief verankert sind Vorstellungen darüber, was eine Vergewaltigung oder ein sexueller Übergriff im sogenannten ‘Normalfall’ sei und wie Betroffene sich in einem solchen Fall verhalten würden. Der Mythos besagt, dass ein unbekannter Täter an einem öffentlichen und/oder abgelegenen Ort, eine Frau überfällt und mit dem Einsatz von körperlicher Gewalt bei starker Gegenwehr des Opfers vergewaltigt“, heißt es auf der Website der Beratungsstelle gegen sexualisierte Gewalt. Entspricht eine Erfahrung sexueller Gewalt diesem Narrativ nicht, wird betroffenen Frauen häufig nicht geglaubt. Die Chance einer Verurteilung wird schwächer. 

Wie verbreitet diese Vorurteile und Vorstellungen sind, zeigte in Deutschland vor Kurzem der Fall des Rammstein-Sängers Till Lindemann. Dem Front-Sänger wird vorgeworfen, Frauen systematisch für Sex rekrutiert und sie teilweise unter Nutzung von Betäubungsmittel sexuell missbraucht zu haben. Das Verfahren wurde letztlich eingestellt, weil das zuständige Gericht die Beweislage als zu schwach einstufte. Die betroffenen Frauen hatten anonym mit Journalist*innen gesprochen, wollten allerdings nicht öffentlich vor Gericht aussagen. 

Zurzeit, nur wenige Monate später, geht der Sänger auf Solo-Tour; seine Fans jubeln ihm zu, als wäre nie etwas gewesen. Bei seinen Konzerten laufen im Hintergrund obszöne und explizite Aufnahmen von Frauen. 

Lindemann ist ein Paradebeispiel für unsere heutige Rape Culture, die sexuelle Gewalt und Missbrauch normalisiert und verharmlost. Besonders Filme spielen eine zentrale Rolle in der Verfestigung dieser Kultur, da sie diese häufig romantisieren oder zu einer Desensibilisierung gegenüber sexueller Gewalt beitragen. Negativbeispiele dafür sind beispielsweise die deutsche Serie „Ku’damm“, in der eine der Hauptfiguren ihren Vergewaltiger heiratet, der Film „Twilight“, in der das Stalking-Verhalten der Hauptfigur Edward heruntergespielt wird oder die Kultserie „Game of Thrones“, die übersättigt ist mit grafischen Missbrauchs-Szenen. Diese Darstellungen prägen unser Verhältnis zu und unsere Vorstellungen von Liebe und Romantik und haben besonders auf junge Menschen nachhaltigen Einfluss. 

© Capelight / Nikolopoulos Nikos

Daher sind Filme wie How to Have Sex so zentral: Sie tragen dazu bei, Narrative über sexuelle Gewalt zu demystifizieren. Dies funktioniert unter Walkers Regie in diesem Fall, besonders über eine Art Verfremdungseffekt. Der Film operiert ohne jegliche Beschönigung oder Romantisierung, die gerade für coming-of-age Filme so typisch sind. Er blickt dadurch sozusagen hinter die glitzernde Fassade des Party-Urlaubs und offenbart eine kalte Realität, die deutlich zeigt, wie abnormal diese normalisierte Kultur tatsächlich ist. Ich hätte mir daher gewünscht, diesen Film schon als Teenager zu sehen und würde How to have Sex auch besonders jungen Menschen ans Herz legen. 

Besonders beeindruckend ist dabei, die reale Darstellung gesellschaftlicher Verhältnisse, die sich nicht abgegriffenen Binaritäten hingibt: Der Film zeigt, dass das Patriarchat kein Dominanzverhältnis zwischen Männern und Frauen bezeichnet, sondern ein strukturelles Problem ist, das sich auf alle gesellschaftlichen Bereiche auswirkt und von Frauen genauso wie von Männern aufrechterhalten wird. So sind Tara und ihre Freundinnen nicht frei von patriarchalischen Vorstellungen: Sie sexualisieren sich selbst, versuchen bestimmten Schönheitsidealen zu entsprechen und konkurrieren um männliche Aufmerksamkeit. Eine bestimmte Form von Weiblichkeit zu entsprechen, ist Voraussetzung, um akzeptiert zu werden. Die Handlungen der Protagonisten, so wird deutlich, sind klare Produkte ihrer Umwelt. Im kleinen Kosmos des Ferienortes Malias zeigt der Film nachvollziehbar, wie Männer ein Gefühl von Berechtigung entwickeln und den Glauben, dass ihnen Sex zustehe. Dadurch entzieht er Paddy jedoch weder die Verantwortung für sein Handeln, noch gibt er Tara Mitschuld. Er macht aber deutlich, dass sexuelle Gewalt systemische Gewalt ist. Es handelt sich nicht um Einzelfälle, sondern um ein gesellschaftliches Problem. Es ist nicht jeder Mann, aber es könnte jeder Mann sein. 

 

Über die Gast-Löwin:
Julia Stanton hat Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft in München und Journalismus in London studiert. Am liebsten schreibt sie über (Pop)-kultur;  Film, Literatur, Feminismus und alles, was damit zusammenhängt. Zurzeit lebt und arbeitet sie in der englischen Hauptstadt.