Olfas Töchter
Olfas Töchter arbeitet eine komplexe Familiengeschichte auf, die eng verbunden ist mit der tunesischen Gesellschaft. Olfa Hamrouni hat vier Töchter. Zwei von ihnen verließen sie, um sich dem sogenannten “Islamischen Staat (IS)” anzuschließen. Unter der Regie von Kaouther Ben Hania spürt Olfa der Lücke nach, die ihr Verschwinden hinterließ.
Olfas Töchter kombiniert Interviews der Mutter und der verbliebenen Töchter, Eya und Tayssir, mit nachgestellten Szenen. Darin verkörpern die Schauspielerinnen Nour Karoui und Ichraq Matar die verschwundenen Schwestern Ghofrane und Rahma. Hend Sabri übernimmt Olfas Rolle, sobald diese emotional überfordert ist, während Eya und Tayssir als sie selbst auftreten.___STEADY_PAYWALL___
Dieses besondere Format wirkt bisweilen wie ein psychologisches Experiment. Olfa, Eya und Tayssir erzählen ausgewählte Schlüsselszenen aus ihrer Perspektive und nehmen durch Regieanweisungen Einfluss auf die Darstellung. Die Schauspielerinnen helfen ihnen dabei, Normen zu hinterfragen und die dahinterliegenden Motive und Emotionen zu erkennen und auszudrücken. Die gemeinsame Arbeit an nachgestellten Szenen vor laufender Kamera konfrontiert Olfa, Eya und Tayssir mit schmerzhaften Erinnerungen und bietet ihnen zugleich eine Möglichkeit, diese zu reflektieren. Die Schauspielerinnen helfen ihnen dabei, Normen zu hinterfragen und die dahinterliegenden Motive und Emotionen zu erkennen und auszudrücken. Auf diese Weise gelingt es Olfas Töchter eindrucksvoll die Mehrdeutigkeit und die Widersprüche menschlichen Handelns zu erfassen.
In den individuellen Erfahrungen von Olfa, Eya und Tayssir findet Kaouther Ben Hania Muster eines patriarchalen Systems. In diesem System formt das Verhältnis von Müttern und Töchtern einen Teufelskreis, in dem Traumata über Generationen von Frauen an Frauen weitergegeben werden. Olfa wuchs mit der Erfahrung patriarchaler Gewalt auf und gibt diese an ihre Töchter weiter. Als Heranwachsende müssen die Töchter schließlich ihren eigenen Umgang mit den intergenerationellen Traumata und gesellschaftlichen Rollenerwartungen finden. Inwiefern Ghofrane und Rahma den radikalen Islamismus als Fortführung einer konservativen Erziehung oder als Rebellion gegen die Mutter begreifen, beantwortet Olfas Töchter nicht.
Kaouther Ben Hania will keine einfachen Antworten geben oder abschließende Urteile fällen. Bereits in ihrer Mockumentary Das Phantom von Tunis verband die Filmemacherin Wahrheit und Fiktion, um den wahren Vorfall eines Mannes, der 2003 in Tunis mit einer Rasierklinge Frauen gezielt am Hintern verletzte, aufzuarbeiten. Ihr erster fiktionaler Film Beauty and the Dogs befasste sich ebenfalls mit geschlechtsspezifischer Gewalt gegen Frauen in Tunesien.
Ihre experimentelle Herangehensweise in Olfas Töchter gibt der Subjektivität und Emotionalität ihrer Protagonistinnen Raum und fordert sie zugleich heraus, ihre eigenen Erinnerungen und Selbstbilder zu hinterfragen. Außerdem regt der Film zu einer tiefergehenden Auseinandersetzung mit der Rolle familiärer Beziehungen und ihrer Wechselwirkung mit gesellschaftlichen Verhältnissen an.
Olfas Töchter läuft aktuell im Programm des 18. Around the World in 14 Films-Festivals und ist in der Kategorie “European Documentary” bei den European Film Awards nominiert. Rapid Eye Movies bringt den Film am 18. Januar 2024 in die deutschen Kinos.
https://youtu.be/uCc8fyP2tkg?si=TQ5rXtWT8JP_mCKu
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