Feuchtgebiete oder Was ist ein Skandal?

Wir sollen diesen Film eklig finden. Genauso wie wir das Buch eklig finden sollten, was übrigens einer der Gründe dafür ist, warum es mir nicht gefallen hat. Alles daran schrie nach Skandal. In der ausufernden Promiskuität der Hauptfigur spiegelte sich der Versuch der Autorin, mit allen Mitteln Aufmerksamkeit für ihren Verbaldurchfall zu erregen. So war zumindest mein erster Eindruck. Und jetzt passiert noch einmal genau das Gleiche. “Skandal und Koketterie” titelt die Süddeutsche. RP-Online schreibt “Ein Skandal als Film” und die Morgenpost spricht von der Premiere als “Skandal mit Ansage”, ohne übrigens zu erklären, worin dieser Skandal eigentlich besteht. Charlotte Roche klatscht vermutlich fröhlich in die Hände und ist mit ihrem Werk zufrieden. Aber ist Feuchtgebiete wirklich ein Skandal? Wikipedia sagt, ein Skandal sei ein „unerhörtes“ oder auch „ärgerniserregendes“ Ereignis und ich komme nicht umhin mich zu fragen, ob das auf diesen Film wirklich zutrifft und wenn ja, warum.

Zwangsvulgarismus oder klare Ansagen?

Es liegt auf der Hand und ich denke darüber müssen wir ausnahmsweise einmal nicht streiten, dass Feuchtgebiete vor allem deshalb so „skandalös“ ist, weil er von einer Frau handelt. Würde hier ein Mann über seine Sexkapaden und Körperhygiene berichten, wäre der Aufschrei nur halb so laut. Es scheint für manche Leute noch immer einem Skandal gleichzukommen, dass Frauen eine eigene Sexualität besitzen und ausleben und sich in ihrem Trieb nur marginal von ihren männlichen Altersgenossen unterscheiden. Die Frage, ob Frauen tatsächlich weniger Lust auf Sex haben, birgt nämlich das Henne-Ei-Problem, also das Problem der Unterscheidbarkeit von Ursache und Wirkung. Was war zuerst da? Die verminderte Lust oder ihre Behauptung? Vielleicht wird Mädchen auch einfach von klein auf eingeredet, dass Sexualität pfui ist und es sich für eine Frau nicht gehört, ihren erotischen Bedürfnissen ohne Gewissensbisse nachzugehen. Helen, so der Name der „skandalösen“ Protagonistin von Feuchtgebiete, schert sich um derartige gesellschaftliche Normen nicht. Wenn sie Sex mit einer Prostitutierten haben will, dann tut sie das, und wenn sie Bock auf Oralsex hat, lässt sie sich eben von einem wildfremden Typen die Muschi lecken. Ist das jetzt skandalös oder einfach eine Darstellung, die Frauen ihre lang negierte Sexualität zugesteht?

Und wo wir gerade dabei sind: Muschi ist auch so ein Wort, bei dem alle die Ohren spitzen. Ganz anders verhält es sich mit dem Wort Schwanz. Für Vagina und Penis gilt übrigens das Gleiche. Die Bezeichnungen weiblicher Genitalien kommen uns schwerer über die Lippen. Helen hat damit freilich kein Problem. Deshalb fällt im Film das Wort „Muschi“ vermutlich öfter als in der bisherigen deutschen Mainstream-Filmgeschichte. Aber ist das ein Skandal? Übertrieben vielleicht, aber ärgerlich oder unerhört? Warum sollte es unerhört sein, dass eine junge Frau ebenso wie ein junger Mann mit ihrer Sexualität experimentiert? Wieso ist das Wort Muschi skandalöser als Schwanz, Penis, Pimmel und Konsorten?

Voyeurismus, Exhibitionismus und pornöse Konsequenz

Helen eignet sich viel besser zur Film- als zur Romanheldin, denn sie lässt sich gerne angucken. Deshalb können wir Regisseur David Wnendt und seiner Inszenierung kaum den Vorwurf des Voyeurismus unterbreiten. Helen will angeguckt werden und wäre sie eine reale Person, würde sie sich über die Aufmerksamkeit der Kinozuschauer:innen freuen wie ein kleines Kind. Auch das gehört sich freilich nicht. Frauen, die sich bereitwillig nackt vor Publikum räkeln, sind Schlampen. Unerhört, dass sich ein junges Mädchen so verhält. Und dann steht sie auch noch auf Sex mit weiblichen Prostituierten! Und steckt sich Gemüse in die – Achtung, da kommt es wieder – Muschi. Skandal, Skandal!

Wirklich? Unerhört? Ärgerlich? Skandalös? Ich empfehle an dieser Stelle einen kleinen Spaziergang durch die Pornoabteilung einer beliebigen Videothek. Ein Studium der ausliegenden DVDs wird schnell ergeben, dass junge Mädchen, die mit anderen jungen Mädchen Sex haben und sich Dinge unterschiedlichster Form und Größe vaginal und anal einführen, besonders beliebt sind. So ärgerlich und skandalös kann das ja nicht sein, wenn offenbar doch viele Menschen an diesem Anblick Freude haben! Aber das ist ja Porno, das ist ja was anderes, sagt ihr jetzt. Ach ja? Weil die Frauen das in dem Porno ja gar nicht wirklich geil finden? Ist das eigentlich Skandalöse an Feuchtgebiete nicht viel mehr der Umstand, dass wir ein Szenario als unerhört, also als außerhalb der Norm betiteln, das wir an anderer Stelle als Teil der Normalität hinnehmen? Lesbischer Sex darf eine Männerfantasie und Wichsvorlage sein, aber keine reale erotische Vorliebe einer Frau?

Während sich Feuchtgebiete einiger gängiger Pornoszenarien bedient, klammert der Film ein anderes Element vollkommen aus: penetrativen Geschlechtsverkehr. Zunächst war ich selbst irritiert, sah nur die Lesben- und Masturbationsszenen und dachte, hier ginge es wieder nur darum, den Voyeurismus des männlichen Zuschauers zu befriedigen. Dann aber stieß ich auf einen Artikel über den weiblichen Orgasmus im Mainstream-Kino und mir wurde klar, dass Feuchtgebiete tatsächlich mit dem Klischee bricht, es brauche einen Penis, um einer Frau sexuelle Freude zu bereiten. Helens Vorliebe für Cunnilingus ist nicht „unerhört“, sondern normal. Ärgerniserregend sind die Filme, die uns das Gegenteil weismachen wollen!

Die Potenz des Skandals

Feuchtgebiete ist als Skandal konzipiert, ob das nun Sinn macht oder nicht. Insbesondere Helens Umgang mit ihrer Körperhygiene soll uns abstoßen. Hierbei ließe sich übrigens durchaus von normabweichendem Verhalten sprechen. Zumindest kenne ich niemanden, der seine beste Freundin mit Menstruationsblut einreibt oder mit dem nackten Arsch öffentliche Toiletten abwischt. Aber ist das wirklich so ein Skandal? Die dreckigste Toilette Schottlands in Trainspotting – Neue Helden war deutlich abstoßender und was das Menstruationsblut angeht, ist diese Passage so absurd, dass wir die Ereignisse eigentlich nur als Witz begreifen können. Und wenn es um den komödiantischen Ekelfaktor von Körperflüssigkeiten geht, finden sich in Scary Movie und ähnlich gelagerten Persiflagen weitaus schlimmere Szenen.

Ich glaube, Feuchtgebiete ist weder eklig noch skandalös. Feuchtgebiete ist uns einfach nur peinlich. Und wie alles, was wir peinlich finden, versuchen wir auch diesen Film von uns zu distanzieren. „Das ist unerhört! Unnormal! Ärgerlich! Aber ganz bestimmt nicht realistisch. Nein, das hat mit uns nichts zu tun! Solche Mädchen gibt es nicht. So etwas gibt es nicht.“ Mag sein. Die Übertreibung lauert im Film wie auch im Buch an jeder Ecke. Aber die Wahrheit eben auch! Die unangenehme Wahrheit darüber, dass Frauen keine ätherischen Wesen sind, die ihre Nahrung komplett verdauen und in der Konsequenz weder pupsen noch kacken. Frauen sind genauso dreckig wie Männer – im wörtlichen, wie auch im übertragenen Sinne. Frauen masturbieren, begutachten ihre Körperflüssigkeiten und haben Fetische – genauso wie Männer auch. Unerhört und ärgerniserregend ist ausschließlich, dass wir das nicht wahrhaben wollen!

Übrigens ist das auch genau der Grund, warum ich nach wie vor ein Problem mit Feuchtgebiete habe. Feuchtgebiete will ein Skandal sein. In dieser Selbstinszenierung jedoch drohen das Buch wie auch der Film ihre eigentliche Botschaft einzubüßen. In dem wir Helen und ihre Geschichte als Skandal deklarieren, bleibt Helen die „perverse Andere“, die nicht identisch ist mit dem „normalen Wir“. In dieser Einordnung sind wir sicher, müssen uns nicht selbst in Frage stellen. Das „Unerhörte“ bleibt von uns verschieden, in sicherer Entfernung. Wir rufen fröhlich Skandal! und meinen das vielleicht sogar als positiven Tabubruch. Aber gelernt haben wir dabei nichts.

Sophie Charlotte Rieger
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