Drei Gedanken zu: Piercing

Mia Wasikowska und Christopher Abbott übernehmen die Hauptrollen in Nicolas Pesces neuem Psycho-Thriller Piercing. Der Film, selbst eine Literaturverfilmung der gleichnamigen Geschichte von Ryu Murakami, bildet eine Nacht im Leben von Reed (Abbott) ab, in der er versucht einen perfiden Plan in die Tat umzusetzen. Getrieben von reiner Mordlust (die er gerade noch so von seinem eigenen Baby abwenden kann) bestellt er sich die SM-Sexarbeiterin Jackie (Wasikowska) ins Hotel, um sie mit einem Eispickel brutal zu ermorden. Doch Jackie macht Reed mit ihrem unvorhersehbarem Verhalten einen Strich durch die Rechnung. Zwischen den beiden entwickelt sich im Laufe der Nacht eine Dynamik, in der oberflächlich wohl die Machtverhältnisse auf den Kopf gestellt werden sollen, aber dennoch wenig subtil die Frauen*rolle mit Füßen getreten wird.

© Busch Media Group

1. Sexarbeit ist ein Milieu für gestörte Menschen

Ja, okay. Diese Message zu unterstellen ist hart. Es gibt bestimmt Leute, die würden jetzt entgegnen: “Naja, nur weil Jackie als Prostituierte dargestellt wird, die sich vollkommen unvermittelt dutzende Male eine Schere ins Bein rammt, dann versucht vor ihrem Freier zu flüchten, nur um sich ihm eine Szene später im Taxi wieder zu nähern, heißt das ja noch lange nicht, dass der Film suggerieren will, dass ALLE Sexarbeiter_innen so bekloppt sind!”. Aber Jackie ist in diesem Film nun mal das einzige Portal in ein Milieu, welches wie kein anderes mit Stigmatisierung und Bevormundung zu kämpfen hat. Und sie wird durch nichts anderes als ihren Selbstzerstörungsdrang und natürlich ihren Job charakterisiert.
___STEADY_PAYWALL___

Die elende Debatte um den ausbeuterischen Charakter von freiwilliger Sexarbeit mal außen vor gelassen, ist die Verbindung, die Piercing zwischen Sexarbeit, Kink und psychischen Krankheiten zieht, eine durchaus problematische. Denn hier wird nur das Klischee der “armen” Frauen* bedient, die aufgrund äußerer (oder auch innerer) nicht zu kontrollierender Umstände bei der Sexarbeit landen. Der Film nähert sich weder den Gründen, die Sexarbeiterinnen für ihre Berufswahl haben könnten, noch der Wechselwirkung zwischen der medialen Darstellung pathologischer Verhaltensweisen und unserer Definition psychischer Erkrankungen sowie deren Verbreitung. Stattdessen festigt er die patriarchale Idee von der sexuell ungezügelten Frau*, die ja nur verrückt sein kann.

2. Der schnuckelige Frauen*mörder

Reed als Jackies Gegenstück ist dabei nicht weniger problematisch. Der Film stellt ihn als Vater und Ehemann* vor, doch schon die erste Szene inszeniert das Familienleben nur als Fassade eines Mannes*, dessen mörderischer Drang so groß ist, dass er beinahe sein eigenes Kind ersticht. Erst im letzten Moment überlegt er es sich anders und plant daraufhin lieber eine Sexarbeiterin zu ermorden. Dieser Gedanke macht ziemlich offensichtlich, dass Reed das – zu diesem Zeitpunkt noch beliebige – Callgirl in feinster patriarchaler Manier nur als Objekt für die Befriedigung seiner Bedürfnisse wahrnimmt. In seiner charakterlichen Verfasstheit müsste er eigentlich ein klassischer Bösewicht sein – und nicht nur das, sondern auch eine Manifestation gewalttätiger Männlichkeit*, die im echten Leben schon vielen Frauen* das Leben gekostet hat. Doch Piercing stilisiert ihn lieber zu einem liebenswerten Sonderling, der doch nichts anderes will, als seinen – naja, etwas ungewöhnlichen – Spleen irgendwie auszuleben. Als ein bisschen tollpatschig, ein bisschen süß in seiner Unerfahrenheit mit Sex und Frauen* ist Reed im Gegensatz zur impulsiven und “verrückten” Jackie schon eher der Sympathieträger des Films. Dabei tritt der Umstand, dass es sich bei ihm um einen Frauen*mörder handelt, zunehmend in den Hintergrund.

© Busch Media Group

Doch ist es nicht nur die Figur Reeds an sich, die zur Verschleierung seiner Gewalttätigkeit beiträgt, sondern auch die Dynamik, die sich zwischen ihm und Jackie entwickelt. Der Film präsentiert sich in großen Strecken als fragmentiertes Kammerspiel. Die Handlung findet in wenigen, auffällig engen Räumen statt, in denen die Interaktion der beiden durch viel Nähe geprägt ist. Wenn sie Reed und Jackie in enge BIldrahmen zwängt, schafft die Kamera nahezu romantische Momente zwischen den beiden Figuren. Wenn sie im Taxi miteinander kuscheln oder Jackie Reed ihr seidenes Bett vorführt, ist schnell vergessen, dass es sich hierbei nicht um eine Liebesbeziehung handelt. Verspielte Musik verstärkt dabei noch die intime Spannung, die sich zwischen ihnen aufbaut. Ihre Täter-Opfer-Beziehung wird immer mehr zu einem spielerischen Balztanz, in dem die mörderische Absicht Reeds zwar nicht verschwindet, aber zumindest versteckt wird.

3. Subtext im Paratext

Die Frage, was Piercing sein will, lässt sich aus dem Film heraus nicht genau beantworten. Zu widersprüchlich ist das Zusammenkommen von Inszenierung und Sujet, um aus feministischer Perspektive greifbar sein zu können. Das Marketing des Films setzt dem noch die Krone auf. Auf der DVD-Hülle verkauft sich Piercing als “stylischer Fetischthriller” und “psycho-sexuelle Horror-Show”. Das ist insofern unpassend, als dass es im gesamten Film zu keiner sexuellen Handlung zwischen Reed und Jackie kommt. Es geht in Piercing nicht um Sexualität. Es geht um Gewalt – körperlicher wie auch psychischer Natur. Der Film, seine Produzent_innen und Vermarkter_innenoffenbaren so ein vollkommen abstruses Verständnis von Sexualität und Fetisch, denn statt auf Konsens und Vertrauen basierend wird “Fetisch” hier als reines brutales Machtspiel begriffen.

© Busch Media Group

Piercing ist zwar durchaus ein stylischer Film – seine 70er-Jahre-Ästhetik wird mit viel filmhandwerklichem Geschick konsequent in Szene gesetzt – aber das kann und sollte nicht darüber hinwegtäuschen, dass hier einiges im Argen liegt. Sensible Themenbereiche wie Sexarbeit, psychische Erkrankungen und sexueller Fetischismus werden zu oberflächlich und vor allem klischeehaft abgehandelt während die Figurenzeichnung nicht den Hauch eines emanzipatorischen Potenzials erkennen lässt. Mann* will Frau* töten und Frau* verhindert das, in dem sie sich von Anfang nicht der Opferrolle fügt, die Mann* für sie vorgesehen hat. Eigentlich eine interessante Prämisse. Aber Piercing verhandelt sie leider nur mit der erzwungenen Hinzugabe romantischer Handlungen. Statt dem was er verdient, bekommt Reed am Ende einen Schluck Tee, ein paar Streicheleinheiten und – das ist eigentlich am unbefriedigendsten – das letzte Wort und den letzten Witz. Was folgt ist der Abspann und das unschöne Gefühl, um eine Geschichte betrogen worden zu sein, die sich auf überspitzter Weise sensiblen Themen hätte nähern können

DVD-Veröffentlichung: 28. Juni 2019

 

Sophie Brakemeier