FFMUC 2019: For Sama

„Sie hätten nie gedacht, dass die Welt das zulässt“, sagt Regisseurin Waad Al Kateab sinngemäß im Voice Over ihres Dokumentarfilms For Sama über die ersten friedlichen Oppositionsgegner_innen in Syrien. Und ich sitze in meinem Kinosessel und schlucke. Während des gesamten Films stehen mir die Tränen in den Augen. Im Anschluss verwerfe ich meinen Plan für den restlichen Festivaltag beim Filmfest München, um nach Hause zu fahren und diese Zeilen zu schreiben. Um rauszulassen, was mir durch den Kopf geht. Und ich weiß sofort: Das wird ein persönlicher Text. Und das ist gut so, denn For Sama ist auch ein persönlicher Film.

2012 beginnt die Wirtschaftsstudentin Waad Al Kateab die Aufbruchsstimmung der friedlichen Revolution in Aleppo zu filmen. Und als die Situation sich mehr und mehr zuspitzt, macht sie einfach weiter. So wie sie überhaupt immer einfach weiter macht, nicht gehen kann, weiterkämpfen muss. Für ihr Land, für seine Menschen, für die Freiheit. Selbst als sie schwanger wird, selbst als ihre Tochter Sama geboren wird. Doch die Zweifel mehren sich mit jedem toten Kind vor ihrer Linse: Das könnte auch Sama sein.

© FILMFEST MÜNCHEN 2019

In gewisser Weise ist For Sama eine Form der Entschuldigung Waad Al Kateabs an ihre Tochter, eine Erklärung dafür, dass das Mädchen* im belagerten Aleppo geboren und zwischen Bomben und Granaten seine ersten Lebensmonate verbracht hat, dass es als Baby über die Frontlinie getragen wird, damit die Eltern trotz der zerstörten Straßen wieder in jene Stadt zurückkehren können, in dem sein Leben täglich in Gefahr ist. Sama ist zugleich Quelle der Hoffnung wie auch der größten Angst. Sie motiviert ihre Mutter weiter für eine bessere Welt, für ein besseres Syrien und damit auch für ein besseres Leben für Sama zu kämpfen, und führt ihr zugleich die tägliche Lebensgefahr vor Augen: „I don’t want to die“ spricht die Filmemacherin schließlich in ihr Videotagebuch.

Und so ist For Sama nicht nur ein Film über Aleppo, sondern auch ein Film über Mutterschaft. Und ein Film über die große Frage nach dem Gehen oder Bleiben, die sich alle Menschen in Kriegsgebieten stellen müssen. Und es ist vor allem ein Film, der all diese Aspekte vereint: Welches Vorbild wollen wir für unsere Kinder sein? Aber auch: Welchen Gefahren dürfen wir sie aussetzen?

Waad Al Kateab nimmt uns hautnah mit in diese Gedanken, während sie uns auf der Bildebene mit dem Ausmaß der Gewalt und des darin resultierenden Leids konfrontiert. Al Kateabs Ehemann* ist einer der letzten Ärzte in Ost-Aleppo, sein improvisiertes Krankenhaus das letzte in diesem Teil der Stadt. Schwerverletzte und sterbende Kinder, klagende Mütter, Blut, Blut und nochmals Blut – die Filmemacherin erspart ihrem Publikum scheinbar nichts. Tatsächlich haben es die schlimmsten Bilder nicht in den fertigen Film geschafft, den sie gemeinsam mit dem britischen Regisseur Edward Watts aus ihrem über die Jahre gesammelten Filmmaterial zusammengestellt hat. Dennoch sind die verbliebenen Aufnahmen kaum auszuhalten: Die wackelnde Handkamera, die manchmal hektisch und suchend durch Aschewolken taumelt, wirft das Kinopublikum mitten rein ins Geschehen. Schwer vorzustellen, welche Bilder noch schrecklicher hätten sein können.

Und obwohl Waad Al Kateab im Film beständig ihre Tochter adressiert, so ist doch klar, dass sie auch mit ihrem Publikum spricht. Die Konfrontation mit der Not und dem Schmerz ist gewollt und kalkuliert. Es ist wie ein nachträglicher Hilfeschrei: Tut doch etwas! Warum hilft uns denn niemand? Es ist gerade die Kombination aus persönlicher Geschichte und Kriegsberichterstattung, die dieser Frage umso größere Vehemenz verleiht. Dies ist kein Film, der mit elendsvoyeuristischen Bildern Mitleid oder Schuldgefühle erhaschen möchte. Aber es ist eben auch kein objektiver Blick auf die Ereignisse. Es ist ein aufrichtiges Selbstportrait einer Aktivistin, die immer wieder auch an sich selbst zweifelt und den Kontext dieser Zweifel, nämlich die Gefahr und Not, in der sie sich befindet, anschaulich macht.

Doch For Sama ist deutlich mehr als die Aneinanderreihung von Gräuelbildern. Waad Al Kateab zeigt auch Momente der Hoffnung, der Albernheit, der Leichtigkeit. Immer wieder fängt sie die Reste des Alltags ein, der in Aleppo noch stattfindet, portraitiert ihre Nachbar_innen, deren Kinder, die Mitarbeitenden des Krankenhauses – auch das immer aus einer persönlichen Perspektive, die sie somit auch dem Kinopublikum anbietet. Wir sehen keine anonymen Personen im Krieg, von denen wir uns emotional distanzieren könnten. Wir sehen Menschen, für die wir Sympathie entwickeln, um deren Leben wir ebenso zu fürchten beginnen wie Waad Al Kateab.

Insbesondere in der Narration der Ereignisse und der sie begleitenden Filmmusik liegt zugegebener Maßen auch der Ansatz einer emotionalen Daumenschraube. For Sama will sein Publikum nicht nur berühren, sondern bedrücken und verstören. Aber nicht aus Selbstzweck, nicht als Effekthascherei, sondern um die Not spürbar zu machen, um wenigstens im Ansatz vermitteln zu können, was sich im belagerten Aleppo abspielt.

Zurück zu mir, die ich im Kinosessel sitze und nicht weiß, wohin mit mir. Waad Al Kateab ist mit ihrem Film bis in mein Innerstes vorgedrungen und ich kann ihre Worte einfach nicht vergessen: „Sie hätten nie gedacht, dass die Welt das zulässt“. Was mache ich eigentlich hier? In diesem Kino, an meinem Computer, in diesem Leben? Ich möchte mir gerne einreden, dass jedes feministische Engagement auch immer ein pazifistisches Engagement ist, weil Kriege immer noch fast ausschließlich von Männern* initiiert und geführt werden. Weil ein Kampf für Frauen* in politischen Führungspositionen und gegen toxische Männlichkeits*konzepte auch immer ein Kampf für mehr Frieden in der Welt ist. Aber reicht das?

Wir können nicht an allen Baustellen dieser Welt arbeiten. Wir können nicht alle in Kriegsgebieten praktische Hilfe leisten. Aber wir können uns bewusst machen, dass wir stille Zuschauer_innen sind, die sicher in ihren Kinosesseln sitzen, die so privilegiert sind, dass Granateneinschläge nicht zur alltäglichen Geräuschkulisse gehören. Wir können uns vor Augen führen, welche Möglichkeiten wir durch diese Privilegien besitzen – sei es durch Demonstrationen, politisches Engagement oder Geldspenden. Wir können immer ein bisschen mehr tun als im Kino sitzen. Wir können zum Beispiel jene Menschen unterstützen, die auf der Flucht vor Kriegen wie dem in Syrien bei uns ankommen. Und Filme wie For Sama machen sehr deutlich, dass wir das auch müssen. Filme wie For Sama fragen nämlich auch uns: Welches Vorbild wollen wir für unsere Kinder sein?

Sophie Charlotte Rieger
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